Fukushima - zehn Jahre danach
9. März 2021Erst zerstörte das Erdbeben vom 11. März 2011 die Stromhauptzufuhr, dann überschwemmte der Tsunami die Notstromaggregate. Bald überhitzte der Brennstoff in drei der sechs Reaktoren in der Atomanlage Fukushima Daiichi, es kam zu Kernschmelzen. In der Folge explodierte mehrmals Wasserstoffgas in den Reaktorgebäuden, nachdem es aus den Druckbehältern abgelassen wurde. Die Fernsehbilder der radioaktiven Rauchwolken über den Meilern brannten sich in das kollektive Gedächtnis der Welt ein. Strahlende Teilchen kontaminierten über 1.000 Quadratkilometer, über 160.000 Anwohner flüchteten.
Zehn Jahre später verschwinden die sichtbaren Zeichen der Katastrophe. Überall in der 20-Kilometer-Zone um die Atomanlage reißen Bagger und Kräne die vielen Gebäude und Häuser ab, die durch Beben, Leerstand und Kontaminierung unbewohnbar wurden. Die Berge von Säcken mit den Überresten der Dekontaminierung, die die Landschaft jahrelang verschandelten, sind größtenteils abtransportiert. Auf vielen Feldern und Wiesen stehen heute Solaranlagen. Doch der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori, spricht in seiner Bilanz zum zehnten Jahrestag der Katastrophe von "Licht und Schatten". "Zum Licht gehört, dass das Strahlungsniveau gesunken ist. Wir haben dekontaminiert, heute sind nur noch 2,4 Prozent der Präfekturfläche gesperrt", sagt Uchibori. "Auf der Schattenseite ist zu sagen, dass immer noch 37.000 frühere Anwohner evakuiert sind."
340 Quadratkilometer unbewohnbar
Zwar wurden inzwischen alle Evakuierungsbefehle für die 20-Kilometer-Zone aufgehoben. Aber weite Teile der Städte direkt am AKW und der Siedlungen in nordwestlicher Richtung sind noch hoch verstrahlt, insgesamt fast 340 Quadratkilometer. Dort liegt die Radioaktivität um mindestens das 50-Fache über dem Standard-Grenzwert von einem Milli-Sievert. In diesen Städten sind bisher nur kleine, dekontaminierte Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, die als Brückenköpfe für eine spätere Rückbesiedlung dienen sollen.
In die Städte und Gemeinden in größerer Entfernung vom Atomkraftwerk sind zwischen 30 und 60 Prozent der früheren Anwohner zurückgekommen. Darunter sind jedoch nur wenige Familien mit Kindern. Oft fürchten sie die Strahlung, viele schlugen an neuen Wohnorten schon Wurzeln. Unter den Rückkehrern sind daher überwiegend Senioren. Zum Beispiel die 68-jährige Tomoko Kobayashi, die mit ihrem Mann eine Pension 14 Kilometer nördlich des AKWs betreibt.
Sie flüchtete nach der Katastrophe zur Familie ihres Sohnes in der Großstadt Nagoya. Aber bald sehnte sie sich nach dem Geschmack ihrer Heimat. "Die Gerichte und Lebensmittel schmeckten in Nagoya nicht so gut wie in Fukushima", erzählt sie in ihrer Pension. "Also gingen wir wieder zurück, um herauszufinden, ob lokale Lebensmittel wieder gegessen werden können."
Das Ehepaar schloss sich einer Bürgergruppe an, die eigene Strahlenmessungen von Boden, Luft und Lebensmitteln vornahm. Laut ihren Daten ist der Konsum etwa von Reis und Gemüse unbedenklich.
Langsamer Wiederaufbau
Die Verbundenheit zur eigenen Scholle motivierte auch Seimei Sasaki zur Rückkehr. Seine Familie lebt seit fünf Jahrhunderten in der Gegend, verpachtet Felder an Reisbauern und lebt von den Erträgen eines kleinen Waldes. Der rüstige 95-Jährige ließ sein traditionelles Wohnhaus mit dem typisch geschwungenen Dach renovieren. Über die Zukunft macht er sich keine Illusionen. "Ich wünsche mir, dass der Wiederaufbau möglichst schnell gelingt. Aber bis alles wieder gut läuft, wird es 30 Jahre dauern, vielleicht sogar 50 Jahre", meint er. "Ich wünsche mir auch, dass mehr Leute wieder Landwirtschaft betreiben. Aber niemand kommt." Ein Grund seien die hohen Entschädigungszahlungen. "Damit haben sich viele Evakuierte woanders ein neues Haus gekauft und wollen jetzt nicht mehr zurück."
Licht und Schatten gibt es auch an der Quelle des Übels: Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi funktioniert die Kühlung des geschmolzenen Brennstoffs, die Ruinen hielten weiteren Beben stand. Aber die Aufräumarbeiten gehen wegen der Strahlung viel langsamer voran als geplant. Auf dem Gelände sammelten sich auch über 1.000 Tanks mit 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser an. Der Betreiber Tepco möchte das Wasser in den Pazifik leiten, aber die Regierung zögert, weil es radioaktives Tritium enthält. Auch weiß man immer noch nicht, wo der geschmolzene Brennstoff genau liegt, geschweige denn, wie man ihn bergen könnte. Doch der Tepco-Manager Akira Ono, der die Stilllegung leitet, will darüber vorerst nicht diskutieren: "Wenn man zehn Leute fragt, erhält man zehn Meinungen."
Kein Ausstieg aus der Atomkraft
Anders als in Deutschland hat die Atomkatastrophe in Japan keinen politischen Ruck ausgelöst. Seit über acht Jahren regiert eine rechtskonservative Koalition, die an der Atomkraft festhält. Wegen der erforderlichen Nachrüstung von Sicherheitstechnik konnte allerdings erst jeder sechste von ursprünglich 54 Reaktoren neu starten. Umfragen zufolge ist eine Mehrheit der Japaner gegen ihre weitere Nutzung, aber bei Wahlen wirke sich dies nicht aus, erläutert die Japanologin Kristina Iwata-Weickgenannt von der Universität Nagoya.
"Außer in den 1960er und frühen 70er Jahren hatte Japan nie eine sehr ausgeprägte Protestkultur. Im Gegenteil: Politischer Aktivismus hat seit dieser Zeit eine starke Stigmatisierung erfahren", sagt die deutsche Expertin. Daher sei die Politikverdrossenheit inzwischen enorm hoch und die Hoffnung gering, dass Straßenproteste Veränderungen bewirken. "Angesichts dessen verwundert es mich nicht, dass die anfänglichen Proteste gegen Atomkraft weitgehend aufgehört haben."
Zumindest in Fukushima setzt man jedoch voll auf grünen Strom. Der Anteil soll bis 2041 von heute 40 auf 100 Prozent steigen. Atomstrom will man dort nie wieder erzeugen.