Zehn Bücher für den Sommer
14. Juli 2018Ian McGuire: Nordwasser
Es gibt sie noch, die großen, packenden Abenteuerromane, Bücher, die den Leser mitreißen, ihn entführen in eine ihm fremde Welt, ganz so wie in früheren vordigitalen Jahrzehnten. Bücher mit literarischen Charakteren, die so plastisch und psychologisch genau vom Autor erfunden wurden, dass sie vor dem Auge des Lesers zu leben scheinen. Romane, die man gar nicht mehr aus der Hand legen mag, so spannend sind sie, so atemlos halten sie den Leser auf Trab. "Nordwasser" des 1964 in England geborenen Ian McGuire ist so ein Buch.
McGuire erzählt, ohne große literarische Experimente, seine Geschichte chronologisch, bis auf eine Ausnahme: Es ist der Zweikampf zweier Männer auf einem Walfangschiff Mitte des 19. Jahrhunderts. Der eine, der Arzt Patrick Sumner mit dunklem Fleck in der Vergangenheit, ein Intellektueller, der aufgrund einer Verletzung körperlich gehandicapt und deshalb medikamentensüchtig ist. Der andere, Henry Drax, ein übler Bursche, ein Mann ohne Gewissen und Mitleid. McGuire erzählt den Kampf der beiden auf hoher See mit großer Dramatik, ungeheuren Details, insbesondere bei der Beschreibung des unmenschlichen, brutalen Lebens an Bord. "Nordwasser" ist nichts für schwache Nerven, aber ein Buch, das man nicht vergisst.
Ian McGuire: Nordwasser, übersetzt von Joachim Körber, 302 Seiten, Mare, ISBN 978-3-86648-267-8;
Lukas Hartmann: Ein Bild von Lydia
Auch der Schweizer Lukas Hartmann entführt uns ins 19. Jahrhundert, auch er erzählt von menschlichen Dramen. Vielleicht ist dem Leser die Welt, die Hartmann vor uns ausbreitet, noch fremder als die rauen Meere des Atlantiks und der Südsee, die man immerhin aus so vielen Romanen der Weltliteratur kennt. Doch Schweizer Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Zumindest dem deutschen Leser dürfte das, was Hartmann erzählt, fremd vorkommen. In der Schweiz ist der historische Skandal, auf dem das Romangeschehen basiert, hingegen wesentlich bekannter.
Alfred Escher war einer der reichsten Unternehmer der Schweiz, baute den Gotthard-Tunnel, wurde als "Eisenbahnkönig" eine Berühmtheit. Eschers Tochter Lydia Welti-Escher heiratete den Sohn eines bekannten Politikers, bändelte aber dann mit dem Maler Karl Stauffer-Bern an, ein unerhörter Skandal, der die Gesellschaft zum Toben brachte. Es sollte eine Liaison mit tragischem Ende werden. Hartmann hat sich des authentischen Stoffes angenommen und daraus einen Roman über versteckte Sehnsüchte und bürgerliche Konventionen und über das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft gemacht. Der Roman ist aus der Perspektive eines jungen Hausmädchens erzählt. Durch den Blick des naiven, braven Mädchens, das aus einer ganz anderen gesellschaftlichen Sphäre kommt, erhält das Buch zusätzlichen Reiz. Ein historischer Roman mit viel Zeitkolorit und einer Geschichte, die noch heute ihre Leser in den Bann zieht.
Lukas Hartmann: Ein Bild von Lydia, 356 Seiten, Diogenes, ISBN 978-3-257-07012-5;
Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis
Die dekadent angehauchte Atmosphäre bestimmter Kreise des 19. Jahrhunderts versprüht auch Klaus Modicks Roman "Keyserlings Geheimnis". Ddie Handlung findet ein paar Jahre später als in Hartmanns Buch statt. Wir betreten die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, wenngleich das Figurenarsenal noch aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheint. Hier ist es freilich nicht der Charme der Bourgeoisie (und des dienenden Personals), sondern die dekadente Trägheit von Künstlerkreisen, die dem Leser nähergebracht wird. Modicks Roman stellt den Schriftsteller Eduard von Keyserling in den Mittelpunkt - Germanistikstudenten werden ihn noch aus Seminaren und Vorlesungen kennen.
Eduard von Keyserling entstammte dem baltischen Adel. Irgendetwas musste während seiner Jugendjahre vorgefallen sein, er wurde aus den adeligen Kreisen verstoßen. Sein "Geheimnis", das dem Roman den Titel verleiht, hatte offensichtlich mit seiner Liebe zu sehr jungen Frauen zu tun. Keyserling ging nach Wien und München, tummelte sich in Schwabinger Künstlerkreisen, Lovis Corinth und Frank Wedekind gehören zu seinen Freunden. Das alles hat Klaus Modick zu einem unterhaltsamen Künstlerroman verwoben, in sommerlicher Atmosphäre spielend, mit Begegnungen in Caféhäusern, trägen Zusammenkünften unter Gleichgesinnten. Das Ganze erzählt der Autor mit einem Hauch von Ironie und einem tüchtigen Schuss Melancholie - vom Tonfall nicht ganz so weit entfernt von den Novellen und Romanen des Eduard von Keyserling.
Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis, 238 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-05156-8;
Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo
Hartmut Langes Novellen spielen dagegen im Hier und Jetzt. Wer diesen Autor erst neu kennenlernen sollte, der dürfte den Eindruck gewinnen, er hätte es mit Episoden aus früheren Jahrhunderten zu tun. Das liegt zum einen an den Geschichten, die der Berliner Hartmut Lange zu Papier bringt: darin wimmelt es nicht selten von Doppelgängern, geisterähnlichen Erscheinungen oder Toten, die wieder zum Leben erweckt werden. Zum anderen liegt es am Stil dieses Autors, der sich an manch große Literaten deutscher Geistesgeschichte anlehnt.
Auch in Langes neuestem Novellenband, der zehn kurze Erzählstücke versammelt, begegnen dem Leser Wesen, bei denen man nie ganz sicher sein kann, ob diese wirklich existieren. Das hat man dann meist mit den Protagonisten der Novellen gemein. Auch die sind im Zweifel: Geschieht das, was da gerade passiert, tatsächlich? Oder nur in der überhitzten Phantasie? Schauplätze der Novellen sind diesmal die deutsche Ostsee und die italienische Hauptstadt Rom. Der eigentliche Ort des Geschehens bei diesen meisterhaft verknappten Erzählungen ist aber ein Reich, das irgendwo zwischen Realität und Einbildung existiert.
Hartmut Lange: An der Prorer Wiek und anderswo, 114 Seiten, Diogenes, ISBN 978-3-257-07013-2;
Anne Wiazemsky: Paris, Mai '68, ein Erinnerungsroman
Eines der schönsten Bücher, das in diesen Monaten aus Anlass der Erinnerung an das Epochenjahr 1968 erschienen ist, stammt von der im vergangenen Jahr verstorbenen französischen Autorin und Schauspielerin Anne Wiazemsky. In Frankreich kamen ihre Erinnerungen an jene bewegten Wochen rund um den Mai '68 bereits 2015 heraus, in Deutschland nun passend zum 50-Jahre-Gedenken. Wiazemsky war von 1967 bis 1979 mit Jean-Luc Godard verheiratet und die Beziehung zum legendären, inzwischen 88-jährigen Regisseur, dessen jüngster Film gerade noch bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde, steht dann auch im Fokus des Romans.
Als "Erinnerungsroman" hat die Autorin ihr Buch betitelt und so darf man sich als Leser fragen, ob das, was hier geschildert wird, tatsächlich exakt so passiert ist. Erzählt wird von den Aufständen der Studenten und Aktivisten in Paris, von Auseinandersetzungen mit der Polizei, von Diskussionen der Linken untereinander, von privaten Liebesscharmützeln, von einem Leben zwischen öffentlichem Engagement und Rückzug ins Private. Entstanden ist ein überaus lebendiges Bild aus dem Herzen der "Revolution". Der Mensch Jean-Luc Godard, und das ist die vielleicht überraschendste Erkenntnis nach Lektüre des Buchs, war ein kindlich auftretender Narziss und kein Sympath.
Anne Wiazemsky: Paris, Mai '68, ein Erinnerungsroman, übersetzt von Jan Rhein, 168 Seiten, Wagenbach, ISBN 978-3-8031-1331-3;
Verena Lueken: Anderswo
Als eine Art Erinnerungsroman könnte man auch Verena Luekens "Anderswo" beschreiben. Die FAZ-Journalistin, die hier ihren zweiten Roman vorlegt, lässt ihre Protagonistin, die Reisejournalistin B., vor allem auf den Spuren ihres Vaters wandeln. Zu diesem hatte sie stets ein angespanntes Verhältnis, von Liebe kann keine Rede sein. Und doch ist es die Beziehung zum Vater, die das Buch wie einen roten Faden durchzieht: "In den vergangenen zwanzig Jahren waren diese Erinnerungen ein paar mal über sie gekommen, selten, alles in allem", heißt es da, doch gilt dies eben nur bis zum Zeitpunkt von dessen Tod. "Solange ihr Vater gelebt hatte, war sie von ihnen verschont geblieben, gerade so, als hätte sie vom Leben noch eine Korrektur erwartet, bevor es mit den Wiederholungen im Gedächtnis losging. Aber es hatte keine Korrektur gegeben."
Das Begräbnis des Vaters einer Freundin löst diesen Erinnerungsstrom aus. Das Leben zieht an B. vorbei. Ihre Liebe und die Beziehung zu Claudio, einem Jazztrompeter, stehen im Mittelpunkt, aber auch ihre Reisen um die Welt, ihre Arbeit, ihre früheren Auftritte als Tänzerin. "Anderswo" ist ein Buch, das den Leser hineinzieht in die Vergangenheit der Protagonistin, immer tiefer und intensiver begibt sich B. in eine Zeit, die lange zurückliegt, durch die Erinnerungen aber wieder sehr lebendig erscheint.
Verena Lueken: Anderswo, 240 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 878-3-462-05135-3;
James Baldwin: Von dieser Welt
Verena Lueken hat auch das Vorwort zur Neuausgabe des Romans "Von dieser Welt" des afroamerikanischen US-Autors James Baldwin beigesteuert, auch dies ein Vaterroman. Baldwin veröffentlichte seinen Roman 1953 und auch wenn er in den folgenden Jahren zu einem bekannten Schriftsteller aufstieg, so ist dessen ganze Bedeutung für die amerikanische Literatur immer noch nicht vollständig erfasst - glaubt man den vielen enthusiastischen Rezensionen, die sich in jüngster Zeit dieser Wiederentdeckung widmeten.
Bei "Von dieser Welt" handelt es sich also jetzt nicht "nur" um eine Neuübersetzung eines modernen Klassikers, sondern um die Wiederentdeckung eines Autors von Weltrang. In Deutschland startet der Verlag "dtv" in diesem Jahr mit der Neuübersetzung der Baldwin-Werke und begann in diesem Frühjahr mit dessen Debüt: Ein stark autobiografisch gefärbter Roman über einen Vierzehnjährigen, der sich auflehnt - gegen den religiösen Wahn des Stiefvaters, gegen die Armut in der schwarzen Bevölkerung in den USA, gegen Unbildung und Machotum. Baldwin, der homosexuell war, hat hier ein Monument der modernen US-Literatur hinterlassen - eine Art "schwarzes" Gegenstück zu Salingers "Der Fänger im Roggen", der zwei Jahre früher erschien.
James Baldwin: Von dieser Welt, übersetzt von Miriam Mandelkow, 320 Seiten, dtv, ISBN 978-3-423-28153-9;
Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende
Eine der erstaunlichsten Entdeckungen des Bücherfrühjahrs ist der Roman "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz. Schon die Geschichte, wie dieser Text, der bereits in den 1930er Jahren verfasst wurde, die deutschen Leser erreicht hat, ist sensationell. "Der Reisende" erschien 1939 in Großbritannien, ein Jahr später in den USA. Boschwitz war Deutscher, schrieb seinen Text in Deutsch und auch nach Ende des Krieges war hierzulande bekannt, dass der Roman in der englischsprachigen Welt vorlag. Doch selbst das engagierte Plädoyer von Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, Boschwitz' Roman doch endlich auch in Deutschland zu verlegen, fruchtete damals nicht.
Es ist so dem Einsatz des Verlegers Peter Graf zu verdanken, dass "Der Reisende" nun endlich in der Sprache vorliegt, in der das Buch verfasst wurde. Auch dieses Buch ist ein stark autobiografisch gefärbter Roman: Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, deutscher Soldat im 1. Weltkrieg, gerät nach den Novemberpogromen von 1938 in Bedrängnis, flieht, irrt durch Deutschland, trifft auf seinen Reisen durch das Land auf die verschiedensten Menschen. "Der Reisende" ist nichts weniger als der erste deutschsprachige Roman eines Juden, der hautnah darüber berichtet, wie es jüdischen Bürgern in jenen Tagen ergangen ist. Ulrich Alexander Boschwitz starb im Oktober 1942 nach einer Odyssee an Bord eines britischen Schiffes, das nach einem deutschen U-Boot-Angriff versenkt wurde. Er wurde 27 Jahre alt.
Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende, 304 Seiten, Klett Cotta, ISBN 978-3-608-98123-0;
François-René de Chateaubriand: Atala
Und noch eine literarische Ausgrabung: Das schmale Büchlein "Atala" des französischen Politikers, Diplomaten und Schriftstellers François-René de Chateaubriand (1768 - 1848) ist schon mehrfach ins Deutsche übertragen worden. Wer mochte, der konnte sich die Novelle also schon zu Gemüte führen, doch die schöne neue Ausgabe des Dörlemann-Verlages und die Neuübersetzung durch Cornelia Hasting machen die Lektüre zu einem wirklich frischen Vergnügen. Die Geschichte ist zudem wahrhaft originell: Ein junger Indianer lernt die Häuptlingstochter Atala kennen, die in Wirklichkeit einer spanischen Siedlerfamilie entstammt. Die Liebe der beiden wird durch ein einstmals von Atalas Mutter abgegebenes, absurdes wie schreckliches Gelübde getrübt.
Der aufgeklärte adelige Chateaubriand bereiste zwei Jahre nach der französischen Revolution Amerika, um die französischen Kolonialgebiete am Mississippi zu besuchen. Die Eindrücke und Erlebnisse von seinen Reisen verarbeitete er dann u.a. in der Novelle "Atala", einem schwerblütigen, emotional aufgepeitschten Text, der voller Pathos von reiner Liebe und Gottesglauben handelt. Der Franzose, der in seiner Heimat als Mitbegründer der Romantik gilt, hat hier ein wunderliches wie poetisches Werk hinterlassen, das in manchen Passagen an deutsche Romantiker wie Novalis erinnert.
François-René de Chateaubriand: Atala, übersetzt von Cornelia Hasting, 192 Seiten, Dörlemann, ISBN 978-3-03820-053-6;
Jean Cocteau: Thomas der Schwindler
Auch Jean Cocteaus schmaler Roman "Thomas der Schwindler" wurde neu übersetzt, auch dies eine lohnende Lektüre. Zumal das Buch sich jetzt auch anlässlich des Gedenkens an das sich jährende Ende des ersten Weltkriegs neu lesen lässt. Cocteau versetzt seinen literarischen Helden Guillaume Thomas de Fontenoy in das gerade begonnene Kriegsgetümmel an französische und belgische Schauplätze. Doch bis auf zwei eindringliche Passagen, die es an drastisch-realistischen Schilderungen von Verwundetenelend und Schlachtengetümmel in sich haben, ist "Thomas der Schwindler" im eigentlichen Sinne kein Kriegsroman.
"Man kann das exzentrische und dandyhafte Werk Jean Cocteaus nur vor dem Hintergrund eines Jahrhundertwendelebens verstehen, von dessen sorgloser Privilegiertheit man sich heute kaum noch eine Vorstellung machen kann", schreibt die Kritikerin Iris Radisch in ihrem aufschlussreichen Nachwort. Und so liest sich Cocteaus Roman über den Hochstapler Guillaume Thomas de Fontenoy dann auch als ironisches Vexierspiel, das Krieg mehr als große, "dekadente" Ausstattungsoper begreift denn als tatsächlich realistisches Geschehen. Cocteau war Künstler, Lebemann, Phantast und ein Mann zwischen den Jahrhunderten - und so entziehen sich seine Filme und auch Romane wie "Thomas der Schwindler" sämtlichen Kategorisierungen: es sind in erster Linie reine Kunst-Werke.
Jean Cocteau: Thomas der Schwindler, übersetzt von Claudia Kalscheuer, 188 Seiten, Manesse, ISBN 978-3-7175-2420-5.