1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Zeitenwende für die EU und die Ukraine

Barbara Wesel
23. Juni 2022

Die EU-Regierungschefs haben die Ukraine und Moldawien zu Beitrittskandidaten gekürt. Sie eröffnen damit eine spätere Mitgliedschaft und senden ein politisches Signal. Zugleich gibt es Hoffnung für die Westbalkanländer.

https://p.dw.com/p/4D9k3
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (v.r.n.l.)
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, EU-Ratspräsident Michel und Frankreichs Präsident Macron (v.r.n.l.)Bild: Olivier Matthys/AP Photo/picture alliance

Es hat Wochen gedauert, die notwendige Einigkeit unter den 27 EU-Regierungschefs herzustellen. Zuletzt hatten auch diejenigen, die einer Erweiterung der EU skeptisch gegenüberstanden, ihre Zweifel überwunden und tragen jetzt die historische Entscheidung mit: Die Europäische Union macht die Ukraine und das kleine Nachbarland Moldawien zu Kandidatenländern und öffnet ihnen damit die Tür für einen späteren Beitritt. Georgien soll im Prinzip folgen, sobald es einige Bedingungen erfüllt. Ansonsten soll über Details später geredet werden, um die Bedeutung des Beschlusses nicht zu schmälern.

Ein historischer Moment

"Wir schicken an die drei Länder eine Botschaft der Einigkeit", sagte Ratspräsident Charles Michel nach der Einigung am Abend. "Es ist ein entscheidender Moment und ein guter Tag für Europa", fügte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hinzu, deren Beamte die allseits gelobte Vorarbeit für den Beschluss geleistet hatten. "Alle drei Länder sind Teil der europäischen Familie, alle drei haben eine Perspektive für einen Beitritt. Es gibt in dieser Zeit kein besseres Hoffnungszeichen für die Bürger". Die Entscheidung der EU stärke die Union selbst wie auch die Kandidatenländer. "Angesichts der Bedrohung von außen sind wir vereint und stark".

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, unter dessen Vorsitz die Entscheidung zustande kam, nannte sie "ein starkes politisches Signal, auch gegenüber Russland". Der Beschluss der EU-27 sei der Start eines Fahrplans und es werde ein langer Weg. Damit meint Macron die Zeit bis zur Aufnahme der neuen Kandidaten, die sein Europaminister vor kurzem noch mit 10-15 Jahren beziffert hatte. Macron betonte auch, wie wichtig die Heranführung und die Integration der östlichen Nachbarn für die EU sei, um nicht ein politisches Vakuum in der Region entstehen zu lassen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj bedankte sich aus Kiew per Twitter: "Ich begrüße die Entscheidung der EU-Regierungschefs, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Es ist ein einzigartiger und historischer Moment in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU. Ich bedanke mich bei Charles Michel, Ursula von der Leyen und den Regierungschefs für ihre Unterstützung. Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU."

Freunde des Westbalkans verzögerten Beschluss

Die traditionellen Erweiterungsskeptiker Dänemark, Portugal und die Niederlande hatten bis zum Beginn des Gipfels ihre Meinung geändert. Die Dänen zum Beispiel betonten die geopolitische Notwendigkeit der Entscheidung und der niederländische Premier Mark Rutte erklärte, die sorgfältige Bewertung des Status in der Ukraine durch die EU-Kommission habe ihn überzeugt: "Die Ukraine ist jetzt in einem Stadium, wo der Kandidatenstatus möglich ist und auch der fürchterliche, verachtenswerte Aggressionskrieg durch Russland spielt eine Rolle”.

Ukraine Kiew | Treffen mit Wolodymyr Selenskyj, Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Mario Draghi und Klaus Iohannis
Die Regierungschefs Draghi, Scholz, Macron und Ioannis am 16.06.2022 beim ukrainischen Präsidenten Selenskyj (Mitte)Bild: Ludovic Marin/AP/picture alliance

Aber nach der alten EU-Devise, dass nichts jemals einfach ist, verzögerten Österreich, Slowenien und Kroatien den Ukraine-Beschluss um einige Stunden, der eigentlich am Nachmittag schnell über die Bühne gehen sollte. Sie hatten sich im Vorfeld schon zu Fürsprechern der Westbalkanländer gemacht und forderten, zugleich mit der Ukraine auch Bosnien-Herzegowina den Kandidatenstatus zu verleihen. Man müsse diesen Ländern, die seit zwei Jahrzehnten auf der Wartebank sitzen, endlich auch eine konkrete Perspektive geben, hatte die Regierung in Wien betont.

Hoffnung für den Westbalkan

Aus dieser kleinen Erpressungsaktion in letzter Minute gewannen die Freunde des westlichen Balkans schließlich die Zusage, die EU-Kommission werde einen neuen Bericht über den Stand der Reformen in Bosnien-Herzegowina vorlegen. Werden darin ausreichende Fortschritte festgestellt, dann würden die Regierungschefs schnell nachziehen und das Land in die Reihe der Kandidaten aufnehmen. Es gebe einen "starken Willen", so zu verfahren, betonte Emmanuel Macron.

Er machte auch Nordmazedonien Hoffnung, das schon 17 Jahre im Wartezimmer sitzt und zuletzt durch einen bilateralen Streit mit Bulgarien blockiert wurde. Sofia fordert kulturelle und verfassungsrechtliche Zugeständnisse von Skopje und versperrt die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen sowohl mit Nordmazedonien als auch mit Albanien. Beide Länder sind aneinander gekoppelt.

Jetzt versprach der französische Präsident, der einen Kompromissvorschlag eingebracht hatte, noch in der nächsten Woche könne es Bewegung geben. Wenn es Ministerpräsident Petkov, dessen Regierung gerade gestürzt wurde, in der nächsten Woche gelinge, den Vorschlag durch das bulgarische Parlament zu bringen, dann könne der Streit beigelegt und der Weg für beide freigemacht werden.

Pressekonferenz mit den Ministerpräsidenten von Albanien, Mazedonien und Serbien, Edi Rama, Dimitar Kovacevski und Aleksandar Vucic
Die Regierungschefs von Albanien und Nordmazedonien, Rama und Kovacevski, sowie der serbische Präsident Vucic (v.l.n.r.)Bild: Kenzo Tribouillard/AFP

Nach dem vorgeschalteten Westbalkangipfel am Donnerstagmorgen, der außer einer strittigen und "deutlichen" Aussprache über bestehende Probleme kein Ergebnis gebracht hatte, zeigte vor allem der albanische Ministerpräsident Edi Rama seine Frustration. Er nannte die Lage des Beitrittsprozesses für sein Land und Nord-Mazedonien eine "Schande", er habe keine Lust weiter auf Godot zu warten, das heißt, den jahrelangen Stillstand zu ertragen und sich mit verbalen Zusicherungen abspeisen zu lassen. Das Familienfoto mit den EU-Chefs sei ja "nett", aber noch viel "netter" wäre es, endlich mit den Verhandlungen voranzukommen. Am Ende des Tages war es dann zumindest gelungen, einen Teil dieser Enttäuschung aufzufangen.

Lob für eine "weitreichende Entscheidung"

Lange habe die EU keine dermaßen weitreichende Entscheidung treffen müssen, kommentiert der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer. Sie signalisiere damit, dass sie "keine Bereiche minderer Sicherheit als Grauzone und Puffer vor der russischen Grenze haben will". Der Weg zur Umsetzung werde nicht einfach sein, räumte der Grünen-Politiker ein, und die Geschwindigkeit hänge von der Reformfähigkeit der Kandidatenländer ab. 

Gwendolyn Sasse vom Thinktank Carnegie Europe weist darauf hin, dass die EU noch nicht wisse, in welcher Lage die Ukraine nach dem Krieg sein werde. Für die EU aber sei es richtig, da sie sowieso beim Wiederaufbau des Landes stark beteiligt sein werde, dabei die eigenen Kriterien anzuwenden. "Der Kandidatenstatus ist mehr als Symbolpolitik", sagt die Politikexpertin. Die Botschaft an die Ukraine sei, dass Europa sie jetzt und nach dem Krieg unterstützten werde, aber es gebe auch ein klares Signal an Russlands Präsident Wladimir Putin, dass seine Hoffnung, "das politische und wirtschaftliche Modell der Ukraine zu zerschmettern, für Russland selbst zum Risiko werden kann".

Die Experten vom "European Council on Foreign Relations" schlagen vor, die EU solle eine "Erweiterungspartnerschaft" aufbauen, um allen Kandidatenländern Schritte zu einer stärkeren Integration und den Weg zu einer eventuellen Mitgliedschaft zu ermöglichen. Dabei solle die Ukraine im Rahmen des Binnenmarktes wieder aufgebaut, eine gemeinsame Verpflichtung zu Energiesicherheit und Klimamaßnahmen vereinbart und eine stärkere Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik angestrebt werden. Vor allem Deutschland und Polen sollten sich dabei für einen solchen Prozess engagieren, weil sie in der geringsten Entfernung zum Krieg in der Ukraine lebten.