Zentralasien attraktiv für den IS
29. März 2016Es war ein "beispielloses" Manöver, berichteten regionale Medien: Mit schwerem Kriegsgerät trainierten rund 45.000 tadschikische Militärs und Reservisten Mitte März zusammen mit etwa 2000 russischen Soldaten die Abwehr aus dem Ausland eindringender Terrorgruppe. Der letzte Teil des Manövers fand im Süden der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan statt, rund 15 Kilometer von der Grenze zu Afghanistan. Die Botschaft galt offenbar sowohl den Taliban, als auch Kämpfern der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).
Seit Monaten beobachtet Russland mit Sorge, wie sich der IS Zentralasien nähert. Die Gefahr, Islamisten könnten Afghanistan als Sprungbrett für eine Ausbreitung in der Region nutzen, habe "reale Umrisse" bekommen: Darauf machte eine Sprecherin des russischen Außenministeriums schon Ende 2015 aufmerksam. Moskau betrachtet Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Kasachstan als seine Einflusssphäre. Außerdem sieht Russland eine Bedrohung für seine südliche Flanke und leistet diesen Staaten militärische Hilfe im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.
Zahl der Kämpfer steigt
Zuverlässige Angaben über IS-Kämpfer aus Zentralasien in Syrien und dem Irak gibt es nicht. Das New Yorker Zentrum "The Soufan Group" schätzte im Dezember 2015 die Gesamtzahl der IS-Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion auf insgesamt 4700. Von diesen seien etwa 2400 russische Staatsbürger, die vor allem aus dem Nordkaukasus stammen. Deren Zahl habe sich in einem Jahr verdreifacht. Aus Zentralasien sollen rund 2000 IS-Kämpfer stammen, Tendenz ebenfalls steigend. Darunter stellten die Usbeken und Kirgisen mit je 500 Mann die meisten Kämpfer. Andere Quellen nennen noch höhere Zahlen.
"Bei aller Ungewissheit über die Zahlenangaben sind das immer noch winzige Mengen aus den muslimischen Gemeinden, die aber genügen, um die Sicherheitspolitik herauszufordern", sagt Uwe Halbach von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) im Gespräch mit der DW. Zudem sei die Verbindung des IS zum postsowjetischen Raum im zu Russland gehörenden Nordkaukasus enger als in Zentralasien.
Außerdem sei es in Fachkreisen umstritten, ob die Mehrheit der zentralasiatischen IS-Kämpfer direkt aus ihrer Heimat oder aus Russland komme, gibt Halbach zu bedenken: "Tadschiken, die nach Syrien ausgewandert sind, kommen zum Teil aus den Kreisen der tadschikischen Diaspora, die in Russland zunehmend unter Druck geraten." Moskau verfolgt in den letzten Jahren eine restriktive Politik gegenüber Arbeitsmigranten aus Zentralasien.
Autoritäre Staaten, arme Bürger
Und doch scheint Zentralasien mit einer Gesamtbevölkerung von fast 70 Millionen ein zunehmend attraktives Rekrutierungsgebiet für den IS zu sein. In den fünf ehemaligen Sowjetrepubliken herrschen seit Jahrzehnten autoritäre Regime, die zu den korruptesten der Welt zählen. Große Teile der überwiegend muslimischen Bevölkerung leben seit dem Zerfall der Sowjetunion in Armut.
Vor allem junge Menschen seien für IS-Ideen anfällig, warnt Akeschan Kaschegeldin, der ehemalige Ministerpräsident Kasachstans, im DW-Gespräch. "Wenn die Jugend keine Perspektiven sieht und auch keine Freiheit hat, das System zu ändern, fängt sie an, extremistischen Politikern zuzuhören", sagt Kaschegeldin, der heute im Ausland lebt. Das IS-Ideal eines grenzüberschreitenden "Kalifats" sei dort populär. Das bestätigt auch Halbach von der SWP. Er gibt zu bedenken, dass auch eine "gerechtere Gesellschaft für Muslime" ein Thema sei, mit dem der IS in Zentralasien punkte.
Alarmglocken in Tadschikistan
Die Zahl der IS-Sympathisanten sei jedenfalls so stark gestiegen, dass in Staaten wie Tadschikistan "die Alarmglocken schrillen", sagt Halbach. Das Land gilt wegen seiner mehr als 1300 Kilometer langen Grenze zu Afghanistan als besonders gefährdet durch den IS.
Im Mai 2015 sorgte ein spektakulärer Fall nicht nur in Tadschikistan für Aufsehen. Oberst Gulmurod Chalimow, Kommandeur einer Sondereinheit der Polizei, war zum IS übergelaufen. Die Regierung habe danach ihre Rhetorik über "die Gefahr von Außen" verstärkt, sagt Halbach. Diese Rhetorik werde von den Eliten aber auch benutzt, "um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken".
Verbot der einzigen islamischen Partei
Als ein Beispiel für interne Probleme nannte der Berliner Experte das umstrittene Verbot der "Partei der islamischen Wiedergeburt Tadschikistans" im September 2015. Sie war die einzige muslimische Partei im postsowjetischen Raum. Das Oberste Gericht warf ihr die Vorbereitung eines Staatsstreichs vor. Mit dieser Entscheidung habe Tadschikistan "den Konsens aufgekündigt, dass man Oppositionskräfte integriert", kritisiert Halbach.
Muhiddin Kabiri, der Anführer der verbotenen Partei, lebt nun in Europa im Exil. Die Regierung habe seit langem darauf hingearbeitet, dass im Land nur zwei Kräfte übrig bleiben: die regierende Partei und die radikale Jugend, beklagt der Oppositionspolitiker. "Wenn der IS im Nahen Osten zerschlagen oder geschwächt wird, müsste er in eine andere Region ziehen, was eine Gefahr für Tadschikistan wäre", so Kabiri. Er wirft Tadschikistan "ein Spiel mit dem Feuer" vor.
IS-Angriff aus Afghanistan unwahrscheinlich
Die Wahrscheinlichkeit, dass der IS die zentralasiatischen Republiken direkt angreift, halten Experten allerdings für gering. Es gebe in Afghanistan nur kleine Gruppen von IS-Anhängern, sagt Kosimscho Iskandarow, Leiter des Zentrums für Afghanistan-Studien in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch die Bundesakademie für Sicherheit in Berlin. "Derzeit scheint ein massives militärisches Übergreifen des IS auf die zentralasiatische Region im Gegensatz zu Irak und Syrien eher unwahrscheinlich", heißt es in einem im Februar veröffentlichten Arbeitspapier. Allerdings dürfte der IS versuchen, sich schrittweise nach Zentralasien auszubreiten, so die Einschätzung. Um das zu verhindern, sei eine politische Teilhabe für gemäßigte islamische Kräfte nötig.