Ziegler: "Hungertod ist Mord"
28. April 2013DW: Herr Ziegler, wer hat Schuld daran, dass alle fünf Sekunden ein Kind auf der Welt verhungert?
Jean Ziegler: Die Mechanismen, die töten, sind alle von Menschen gemacht. Die Hauptgründe für dieses tägliche Massaker des Hungers sind zuerst einmal die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel. Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, also produziert sie selbst keine Lebensmittel. 1,2 Milliarden Menschen sind - nach Angaben der Weltbank - extrem arm. Wenn der Maispreis, wie in den letzten zwei Jahren, um 63 Prozent explodiert, dann sterben diese Menschen, weil sie diese Preise nicht mehr zahlen können.
Der zweite Mechanismus sind die Agrartreibstoffe. Ich mache das am Beispiel des größten Produzenten der Welt deutlich, den Vereinigten Staaten von Amerika. 2010 haben die USA 138 Millionen Tonnen Mais und hunderte Millionen Tonnen Getreide verbrannt, um Bioethanol und Biodiesel herzustellen. Wenn Sie also ein Auto haben, das mit Biosprit fährt, müssen Sie, um einen 50-Liter-Tank aufzufüllen, 352 Kilogramm Mais verbrennen. Von einer solchen Tankfüllung könnte ein Kind in Sambia oder Mexiko, wo Mais ein Grundnahrungsmittel ist, ein Jahr lang leben.
Dann gibt es das Agrardumping: Auf jedem afrikanischen Markt wird etwa griechisches, deutsches, portugiesisches, französisches Gemüse bis zur Hälfte günstiger als die afrikanischen Produkte verkauft. Und der afrikanische Bauer rackert sich ab und hat nicht die geringste Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen.
Es sind also vor allem Wirtschaftsinteressen, die zu Lasten der armen Bevölkerung gehen…
Natürlich, das ist der Raubtierkapitalismus.
Welche Rolle spielt denn die Politik?
Die Souveränität, die Normativkraft der Nationalstaaten schmilzt wie ein Schneemann im Frühling. Die zehn größten multinationalen Nahrungsmittelkonzerne haben vergangenes Jahr 85 Prozent aller auf der Welt gehandelten Nahrungsmittel kontrolliert. Diese Konzerne haben eine Macht, wie es nie ein König, Kaiser oder Papst in der Geschichte je gehabt hatte. Sie sind jenseits jeglicher sozialen Kontrolle. Eine kleine Anekdote: Am 8. Oktober 2011 hat der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy im französischen Fernsehen gesagt, beim kommenden G20-Gipfel Anfang November in Cannes wird Frankreich verlangen, dass die Börsenspekulationen auf Nahrungsmittel verboten werden. Dann kam der Gipfel und es stand kein Wort davon im Abschlussbericht. Was war passiert? In der Zwischenzeit haben die Nahrungsmittelkonzerne natürlich interveniert. Ein Verbot wäre ein unzulässiger Eingriff in den freien Markt und die Staatschefs der industriellen Welt sind eingeknickt.
Sie nennen die Finanzkrise und die damit einhergehende Verlagerung der Spekulationen an die Agrarbörsen als einen der Hauptgründe für den Hunger in der Welt. Wie spüren die Menschen in der sogenannten Dritten Welt die Finanzkrise?
Sie spüren sie durch das Zusammenbrechen des Budgets des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Das WFP (World Food Programme) ist wohl eine der besten Organisationen, welche die humanitäre Soforthilfe in Hungerkrisen übernimmt. Ein Beispiel aus einem der größten Flüchtlingslager in Darfur: Wenn dort nicht alle zwei bis drei Tage die weißen Toyota-Fahrzeuge mit den blauen UN-Fahnen vorfahren würden - beladen mit Mehlsäcken, Wasserkanistern und Reis - dann würden die Leute dort sterben. Niemand kann dort ohne Lebensgefahr das Lager verlassen. 2008 umfasste das Budget des WFP sechs Milliarden US-Dollar, heute sind es 3,2 Milliarden US-Dollar. Das WFP lebt vor allem von den Beiträgen der größten Industrienationen, und die haben im Zuge der Finanzkrise ihre eigenen Banken finanzieren müssen und haben die Beiträge eingestellt oder stark heruntergefahren.
Einen besonders grauenhaften Hungertod schildern Sie sehr detailliert in Ihrem Buch "Wir lassen sie verhungern": die Krankheit Noma. Vor allem Kinder zwischen einem und sechs Jahren sind davon betroffen. Können Sie den Verlauf dieser Krankheit kurz zusammenfassen?
Noma ist eine der schlimmsten Mangelkrankheiten. Wenn sie auftritt, entstellt sie das Gesicht des Kindes. Oft wird es von der Familie versteckt, weil die Krankheit als Schande empfunden wird.
Die Krankheit beginnt mit Entzündungen im Mund, dann werden die weichen Gewebe des Gesichtes zerfressen, es entstehen Löcher in den Wangen, dann blockiert sich der Kiefer. Die Mutter zerschlägt deshalb einige Zähne des Kindes, um Flüssigkeit einführen zu können und das Kind am Leben zu erhalten.
Was kostet die Behandlung eines Kindes?
Für gerade einmal zwei Euro könnte ein Kind durch die Behandlung mit Antibiotika gerettet werden. Aber das passiert nicht. Allein in den Ländern der Sahelzone gehen jedes Jahr etwa 140.000 Kinder an der Noma-Krankheit zugrunde. Das sind etwa zehn Prozent der tatsächlichen Hungertod-Opfer in diesen afrikanischen Ländern.
Trotz allem sagen Sie, Ihr Buch "Wir lassen sie verhungern" sei ein Buch der Hoffnung. Worauf hoffen Sie?
Immer mehr Menschen lehnen diese Weltordnung ab. Immanuel Kant hat gesagt: "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir." Das merken die Menschen, das Bewusstsein steigt. In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Alle mörderischen Strukturen, die wir identifiziert haben, die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, das Agrardumping, der Agrartreibstoff und andere können morgen eliminiert werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger aufstehen und Druck auf die Regierung ausüben. Und ich bin überzeugt, dieser Aufstand wird kommen.
Jean Ziegler ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Der Soziologe und Schriftsteller ist ein bekannter Globalisierungsgegner. Sein aktuelles Buch "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt" ist 2012 im C. Bertelsmann-Verlag veröffentlicht worden.
Das Interview führte Janine Albrecht.