Ziel Berlin
18. Dezember 2014Ich befinde mich inmitten von Hunderten von Menschen, die gerade gegen Polizeibrutalität, Nazis und Faschisten demonstrieren. Die Menschenmenge bewegt sich entlang einer Hauptstraße im Stadtteil Kreuzberg. Die Straße scheint recht heruntergekommen zu sein: abgerissene Mietskasernen und vergammelte Bauhaus-Fassaden, dazwischen billige Eigentumswohnungen, Döner-Buden, Spirituosenläden und Teestuben säumen den Straßenrand. Überall begegnen einem Großmütter mit Kopftüchern, junge Türken, und Künstler.
Alsbald laufe ich neben einem Mann, der mich über Rassismus in Deutschland aufklärt, sowie den Tod eines Mannes in Haft aus Sierra Leone. Ich gehe davon aus, dass auch er aus Afrika stammt, oder aus der Karibik, aber er sagt, er sei aus Berlin. Ich frage ihn noch einmal: "Woher kommst Du?" Er wiederholt: "Ich bin aus Berlin", und über den Lärm des Protestzugs schreit er, dass er hier lebt.
"Berlin kam zu mir"
Die Anti-Nazi-Parolen, sowie die Behauptung, dass es in Deutschland systematischen Rassismus gäbe, stammen von den Organisatoren der Demonstration: Anarchisten, Linke, afrikanische Aktivisten, kurdische Nationalisten. Es sind teilweise Reaktionen auf Enthüllungen, dass eine Neonazi-Terrorzelle in den letzten zehn Jahren neun Einwanderer in Deutschland ermordet hat. Solcherlei Schreie vernimmt man häufig in diesem immer noch radikalisierten Berliner Stadtteil. Jetzt bewegt sich die Demo auf das Kottbuser Tor zu, einem vom sozialen Wohnungsbau geprägten Stadtteil, wo einst der Drogenhandel blühte, und jetzt Dönerläden und Schwulenbars von günstigen Mieten profitieren.
Die Demonstranten schreien, "Es war Mord!" Der Mann, der neben mir geht, kennt die Vorgänge gut. Ich nehme immer noch an, dass er aus Afrika stammt, aber er sagt, "Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, sondern Deutschland kam zu mir." Er will nicht als Ausländer gelten, der sich in Berlin eingeschlichen hat. "Was ich rüberbringen will, ist einfach, dass wir alle gleich sind."
Nicht zum ersten Mal bin ich durch Zufall in eine Demonstration geraten, dieses Mal auf dem Rückweg von meinem türkischen Schneider, wo ich einige Kleidungsstücke abgeholt hatte. So etwas passiert mir oft in dieser Stadt. In solchen Momenten begreife ich Berlin wirklich. Dann wird mir klar, warum ich gekommen bin. Und warum ich hier bleibe.
Wie bei den fortdauernden Protesten um die Flüchtlingslager am Oranienplatz und der Gerhart-Hauptmann Schule in Kreuzberg. Da bin ich oft vorbeigeradelt und sog jedesmal die Bedeutung der Schilder in mich auf - mit der Aufschrift: "Kein Mensch ist illegal". Wobei es keineswegs eine neue Idee ist, dass alle Menschen das Recht haben sollten, ein Berliner zu sein.
Ein Teil von Berlin werden
Wieder bei der Demo gegen Neonazis angekommen, packt mich plötzlich eine Erkenntnis. Während ich neben diesem Mann hermarschiere, diesem Aktivisten, diesem scheinbaren Migranten, wird mir klar, dass für ihn der Anspruch, selbst ein Berliner zu sein, eine Befreiungsstrategie darstellt. Es ist ein Nachhall von John F. Kennedys "Ich bin ein Berliner"- Rede, die er im Jahr 1963 nur ein paar Straßen von hier entfernt hielt: die Idee, dass alle, die an die Freiheit glauben, sozusagen automatisch zu Bürgern der ummauerten, belagerten Stadt West-Berlin würden. Dieses Klischee klingt auch noch ein halbes Jahrhundert später irgendwie nach. Berlin ist und bleibt eine Insel, eine letzte Zuflucht, ein Ort des Widerstands und der Zugehörigkeit für viele verschiedene Menschen.
Wie ich erst später herausfand, heißt dieser Mann, dem ich auf der Kundgebung begegnete, Gaston. Und er ist der Gründer einer Interessensgruppe, die nach dem ersten Afrikaner, der eine Universitätsausbildung in Deutschland genossen hat, nämlich Anton Wilhelm Amo. Gaston sagt, er sei auch schon von der Polizei schikaniert und von Abschiebung bedroht gewesen. Die Frage nach seinem Herkunftsland beantwortet er mit dem Hinweis, dass auch er ein "menschliches Wesen" sei.
Während die Truppe der Demonstranten gegen den eisigen Wind ankämpft, der gegen graue Wohnblocks pfeift, die einen an Hitlers Betonbunker erinnern, beginne ich zu begreifen, dass Berlin auch zu mir gekommen ist.
Meine eigene Geschichte ist wohl kaum vergleichbar mit den Geschichten von Einwanderern aus Sierra Leone, der Türkei, Palästina, Russland, Rumänien, Bosnien, Vietnam, um nur einige der 190 Nationalitäten zu erwähnen, die sich in diesem Teil von Berlin niedergelassen haben. Mittlerweile, so wird zumindest behauptet, soll die ethnische Zusammensetzung hier sogar noch bunter geworden sein als in New York. Aber vielleicht bleibt ja jeder von uns, und jeder auf seine Weise, deshalb in Berlin, weil er hier gar nicht das Gefühl hat, ein Außenseiter zu sein, der illegal eingedrungen ist. Gaston hat durchaus Recht. Es ist denkbar, dass die Stadt zu uns gekommen ist, dass Berlin uns zu einem Teil von sich gemacht hat.
Globale Nachbarschaft
Einige Tage nach dem Protestmarsch starre ich aus dem Fenster meiner einfachen Wohnung, wo sich zwar die Dusche in der Küche befindet, die aber dafür über großartige hohe Decken verfügt, und die ich immer noch zu einem Schrottpreis im total heruntergekommenen Hinterhaus eines Mietshauses in Kreuzberg angemietet habe. Ich schaue zum Fenster oberhalb meiner Wohnung, wo ein alterndes Ehepaar lebt: Der Mann war nach dem Krieg aus Polen hierhin gezogen. Mein Blick wandert nach unten, in die Küche eines sudanesischen Mannes, der sich hier in den frühen achtziger Jahren niederließ.
Hinter einem weiteren Fenster liegt das Wohnzimmer von zwei deutschen Frauen, deren Wohnungstür ein Willkommensschild in Regenbogenfarben schmückt. Im Erdgeschoss lebt ein türkisches Ehepaar, und dahinter, zum Innenhof hin, befindet sich ein griechisches Café. Meine Augen ruhen nun auf dem Hof, in Erwartung des ägyptischen Küchenchefs aus dem angrenzenden deutschen Restaurant, der regelmäßig zu einer Zigarettenpause im Hof auftaucht.
Als australischer Journalist, der damit beauftragt wurde, eine Serie von Artikeln über ausländische Gemeinschaften in Berlin zu verfassen - Palästinenser, Afrikaner, Roma und Spanier - geht mir jetzt langsam die Puste aus. Ich lebe erst seit ein paar Jahren in dieser Stadt. Nachdem ich plötzlich in diese antifaschistische Demo geraten bin, scheint es mir jedoch fast so, als sei in dieser Stadt niemand wirklich ein Fremder.
Dieser Beitrag zum Thema „Szene in Berlin“ ist ein Auszug aus dem Buch von Stuart Braun: "City of Exiles: Berlin from the Outside in", das demnächst von Noctua Press veröffentlicht wird.