"Wir warten bis zu einer Woche"
1. Januar 2021Als am Mittag die erste Fähre aus Großbritannien im Hafen von Dünkirchen in Nordfrankreich anlegt, versammeln sich die französischen Zöllner auf einer Treppe am Hafenkai und schauen zu, wie die ersten Lkw von Bord rollen. Normalerweise arbeiten die Zöllner in ihren Büros und schauen auf Computerbildschirme, um Frachtpapiere zu checken.
Aber heute ist es doch anders, ja historisch, weil um Mitternacht (Mitteleuropäischer
Zeit) das Handelsabkommen mit dem ehemaligen EU-Mitgliedsland Großbritannien in Kraft getreten ist. Anstelle des bisherigen Binnenmarktes tritt ein Abkommen, dass im Prinzip zollfreien Warenverkehr, aber auch mehr Kontrollen und Papierkrieg als bisher vorsieht.
"Die allermeisten Lkw-Fahrer haben die richtigen Zollerklärungen parat", sagt Filip Hermann, Vizepräsident von DFDS, einer der größten Reedereien in Nordeuropa, am Fähren-Anleger von Dünkirchen. "Und denen, die keine vollständigen Papiere haben, versuchen wir schon in Großbritannien zu helfen, denn die dürfen gar nicht erst an Bord unserer Schiffe." Etliche kleinere Speditionen und Subunternehmen in Osteuropa hätten noch viele Fragen zu den neuen Frachtpapieren nach dem Brexit, so Hermann.
Ruhe vor dem Sturm?
Insgesamt ist die Abfertigung aber sehr ruhig. Am Feiertag ist eh nicht viel los, Corona schränkt das Passagieraufkommen erheblich ein und nur etwa zehn Prozent der 120 Lkw aus dem Bauch der Fähre werden zu zusätzlichen Kontrollen von den Zöllnern heraus gewunken. Diese Quote könnte Frankreich aber jederzeit erhöhen.
"Die eigentliche Bewährungsprobe kommt in einigen Wochen, wenn das Güteraufkommen saisonbedingt zunimmt und die Speditionen wieder voll ausgelastet sind", meint Logistikexperte Hermann von DFDS. Die letzten Wochen bis Weihnachten seien sehr geschäftig gewesen, erklärt er, weil viele Warenhäuser und Fabriken ihre Vorräte vor dem endgültigen Brexit noch aufgefüllt haben. Jetzt komme ein ruhigere Phase.
"Wir sind vorbereitet"
Im Nachbarort Calais überwacht der oberste Zöllner der Region "Haut-de-France", Jean-Michel Thillier, den reibungslosen Ablauf der Kontrollen, die er jahrelang vorbereitet hat, wie er sagt. Der Zoll hat große Übungen durchgeführt, in neue Datenverarbeitung investiert. Die Unternehmen können über ein System namens "smart border" ihre Waren online deklarieren und verzollen. Die Fahrer erhalten einen Barcode, der an der Grenze dann nur noch ausgelesen werden muss.
Großbritannien und Frankreich kontrollieren gemeinsam, auch auf dem Territorium des jeweils anderen Staates, die Papiere. "Wir haben viel gearbeitet und 60 neue Leute angeheuert, um eine neue Zollverwaltung aufzubauen, die rund um die Uhr geöffnet ist. Wir haben neue Computertechnik installiert und hoffen, dass dieses System mit einer gewissen Automatisierung funktioniert, damit wir die Abfertigungszeiten gering halten können", sagt der Zoll-Chef in seiner eleganten Paradeuniform beim Ortstermin in Calais.
Auf der britischen Seite lassen sie sich noch etwas Zeit. Erst ab Mitte diesen Jahres will der britische Zoll in Dover Waren aus der EU nach den Regeln des neuen Handelsabkommen kontrollieren. Ob die Vorbereitungen der Briten vielleicht nicht so ernsthaft seien, will der Franzose Thillier lieber nicht kommentieren. "Ich habe die Entscheidung des britischen Volkes nicht zu beurteilen, aber wir müssen uns auf die neue Welt vorbereiten. Die neue Welt bedeutet eben, dass es Zoll-Formalitäten geben muss, wenn man Waren von einer Seite zur anderen schafft."
Empfindliche Lieferkette
Neu sind Kontrollen von Tieren, Pflanzen und frischen Lebensmitteln. Die konnten im EU-Binnenmarkt ungehindert passieren. Jetzt müssen sie geprüft werden. Fünf Millionen Lastkraftwagen und Sattelschlepper überqueren jedes Jahr den Ärmelkanal in beide Richtungen. 70 Prozent der frischen Lebensmittel importiert Großbritannien.
Schon eine Unterbrechung von zwei, drei Tagen in der Lieferkette führt zu leeren Supermarkt-Regalen. "Der Corona-Reisestopp für Lkw-Fahrer vor Weihnachten hat ja gezeigt, welchen Schaden Frankreich auslösen könnte, wenn Kontrollen wirklich zu Verzögerungen führten", gibt in Dünkirchen Reederei-Vizepräsident Filip Hermann zu bedenken.
"Wir verlieren Zeit und Geld"
Vor dem Hafen von Calais warten auf einem umzäunten Parkplatz an der Autobahn A16 die Lkw-Fahrer auf Abfertigung ihrer Laster. Viele stammen aus Polen, den baltischen Staaten oder Weißrussland. Für einige ist es schwer, die neuen Bestimmungen zu durchschauen. Sie müssen sich auf ihre Spedition zuhause verlassen, die die Papiere zusammenstellen. Je nachdem, wie viele Kunden aus einer Ladung beliefert werden sollen, sind sechs oder mehr Frachtbriefe und Barcodes nötig.
"Der Brexit bedeutet viel Papierkram, viele Unterbrechungen. Wir warten bis zu einer Woche", beklagt sich der Fahrer Juri aus Belarus. Ein Kollege aus Italien pflichtet ihm bei und klopft sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe: "Beim Brexit geht es doch nur um Politik. Du, ich und alle Kollegen verlieren hier nur Zeit und Geld."
James, ein Fahrer aus Großbritannien sieht das gelassener. Er lehnt seinen tätowierten Oberarm lässig auf das Fenster seiner Fahrerkabine und lächelt. "Es wird sich einiges ändern, aber das macht uns nicht traurig. Ich glaube, man muss einfach damit umgehen lernen. Das ist jetzt so, man muss mit dem Strom schwimmen."