Zu viel Zucker: Werbeverbot gegen Übergewicht bei Kindern?
2. März 2023Ein Schokoladenbonbon mit Armen, Beinen und übergroßer Brille rast auf der Achterbahn nach unten. "Das schmeckt nach Spaß", verspricht eine Stimme. Und weist auf ein Gewinnspiel hin, bei dem freier Eintritt in einen Freizeitpark winkt. Werbung für Süßes im Nachmittagsprogramm im Deutschen Fernsehen.
Geht es nach Cem Özdemir von den Grünen, dann ist diese bald verboten. Der deutsche Ernährungsminister will, dass zwischen 6 und 23 Uhr in Fernsehen, Radio und Internet keine Werbung für ungesunde Lebensmittel gezeigt werden darf, die sich an Kinder richtet. Auch für Influencer etwa auf Youtube oder Tiktok soll das gelten. Außerdem sollen rund um Schulen, Kindergärten und Spielplätze in Zukunft Plakate tabu sein, die Süßes, Fettiges oder Salziges in bunten Farben bewerben.
"Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder gesünder aufwachsen können," sagte Özdemir bei der Vorstellung seiner Pläne Anfang der Woche in Berlin. Das sei entscheidend im Kampf gegen Übergewicht und weitere ernährungsbedingte Krankheiten. Werbung für ungesunde Lebensmittel habe nachweislich Einfluss auf das Essverhalten von Kindern, so der Minister weiter.
Ein Milliardenmarkt
Dass ein Webeverbot Übergewicht verhindern kann, bestreiten jedoch Vertreter der Lebensmittelindustrie in Deutschland. So wie Carsten Bernoth, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI). Zum DW-Interview nimmt er am Tisch im Konferenzraum des BDSI in Bonn Platz. Kein Keksteller steht hier, keine Knabbereien, nur einige Wasserflaschen.
Ein Werbeverbot werde nicht dazu führen, dass Kinder weniger Süßes essen, sagt Bernoth: "Werbung ist in einer Marktwirtschaft essenziell. Sie hat die Funktion, dass man anderen Wettbewerbern Marktanteile abjagen kann." Etwa 14 Milliarden Euro Umsatz konnten die deutschen Süßwarenhersteller im vergangenen Jahr vermelden. Und etwa eine Milliarde Euro geben sie für Werbung aus.
Bernoth befürchtet, dass Özdemirs Pläne zu einem fast kompletten Werbeverbot für seine Branche führen. Denn auch Werbung, die zwar für Erwachsene gedacht sei, aber potentiell von Kindern gesehen werden könne, falle unter das geplante Verbot. "Wir plädieren dafür, dass der Verbraucher, die Verbraucherin, die freie Wahl hat", sagt Bernoth. "Sie müssen eine bewusste Wahl treffen können. Information und Bildung sind hierfür der Schlüssel. Und es ist nicht am Staat, hier irgendwelche Vorgaben zu machen, irgendwelche Verbote zu postulieren."
Positivbeispiel Chile
Was ist nun richtig: könnte ein Werbeverbot Kinder vor ungesundem Essen schützen - oder nicht? Anruf bei Anette Buyken, Professorin für "Public Health Nutrition" an der Universität Paderborn. Die Datenlage zu dieser Frage sei bislang nicht besonders gut, sagt sie der DW. "Das Hauptproblem ist, dass es nur sehr wenige Länder gibt, die diese Maßnahmen umsetzen und wirklich mit einer guten Wirksamkeitsforschung begleiten."
Als Positivbeispiel nennt Buyken Chile. Dort herrschen seit 2016 die weltweit strengsten Regeln für Süßigkeitenwerbung, die sich an Kinder richtet. Neben einem Werbeverbot müssen ungesunde Lebensmittel auch mit Warnhinweisen gekennzeichnet sein, ähnlich wie bei Zigaretten. Von Anfang an habe man dort Daten zur Wirksamkeit erhoben. "Und so konnte man zeigen, dass sich dadurch auch die Wahl der Lebensmittel verändert hat", sagt Buyken.
Jetzt untersuche man, ob dadurch langfristig die Gesundheit verbessert wird. Dabei dürfe man nicht nur das Übergewicht im Blick haben. "Das Wichtigste ist, loszulegen, zu beobachten und dann gegebenenfalls nachzusteuern. Wir haben genügend Belege, aus der Erfahrung mit Chile und anderen Ländern, wie man so etwas angehen kann."
In vielen Ländern ist die Zahl der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen. Etwa jedes sechste Kind in Deutschland ist laut Robert Koch-Institut übergewichtig oder adipös. Unter den 11- bis 13-Jährigen ist es sogar jedes fünfte.
Corona-Pandemie verstärkt den Trend
Es sind die Eltern solcher Kinder, die bei Andrea Gerschlauer anrufen und nach Hilfe fragen. Sie ist seit 2018 als Ernährungsfachkraft tätig. In Gerschlauers Beratungszimmer in einer Gemeinschaftspraxis in Bonn hängt ihr Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), in der Ecke steht eine Spielküche für die Kleinsten, an der Magnetwand klebt die Ernährungspyramide: reichlich ungesüßte Getränke als Basis, viel Gemüse, Obst, vollwertige Getreideprodukte und Kartoffeln, mäßig Milch, Fleisch, Fisch und Ei und ganz an der Spitze: sparsam Süßes und Fettiges.
Gerschlauer stellt einen Getränkekarton auf den Tisch, der als "Durstlöscher" vermarktet wird, mit leuchtenden Früchten auf der Verpackung. "Sagen Sie mir, wie viel Würfel Zucker hier drin stecken", bittet sie. Gerschlauer löst auf: "18 Stück. Das löscht nicht Ihren Durst. Das sind Versprechen, die mich als Verbraucher hinters Licht führen."
Gerschlauer hofft, dass das Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel in Deutschland bald kommt. Seit der Corona-Pandemie sei verstärkt zu beobachten, dass einige Kinder in einem relativ kurzen Zeitraum viel Gewicht zugelegt hätten, sagt sie. "Ich sehe einen Zusammenhang damit, dass die Kinder vermehrt Fernsehen geschaut haben. Beim Fernsehen wird oft gesnackt. Und wenn dann noch Werbung dazu kommt, ist es für Kinder sehr schwer, sich vom Gedanken an Süßes frei zu machen." Besonders betroffen seien Kinder aus sozial schwachen Familien.
Gerschlauer unterscheidet innere und äußere Faktoren, die zu einer Ess-Entscheidung führen. Eine große Rolle spiele natürlich das Umfeld, also vor allem die Familie – hier seien die Eltern als Vorbilder und als "Chefs des Angebotes" in der täglichen Verantwortung. "Aber ich bin überzeugt, dass gerade kleine Kinder-Gehirne auch durch Werbung beeinflusst werden. Ich selbst kann jetzt noch Werbeslogans aus meiner Kindheit aufsagen – und das ist 50 Jahre her. Das bleibt hängen."
Nach einem Werbeverbot sollten weitere Schritte folgen, fordert Gerschlauer. Etwa eine höhere Besteuerung ungesunder Lebensmittel – so wie bei Zigaretten. Oder eine Mehrwertsteuersenkung für gesundheitlich günstig wirkende Lebensmittel wie Gemüse, Obst, Vollkorn und Hülsenfrüchte. "Ansonsten kriegen wir in 30 Jahren ein riesiges Problem. Wenn diese vielen übergewichtigen Kinder groß werden, dann sind sie von Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck und anderen ernährungsmitbedingten Erkrankungen bedroht. Da kommen viel Leid und hohe Kosten auf uns zu."
Gegenwind aus der FDP
Doch schon Özdemirs Werbeverbot dürfte es schwer haben im Bundestag – obwohl die Ampel-Regierung sich in ihrem Koalitionsvertrag bereits grundsätzlich auf ein Verbot von Werbung für Ungesundes "bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige" geeinigt hatte. Aus der Fraktion des Koalitionspartners FDP wird Özdemir nun nämlich "Gegenwind" für seinen Vorschlag angekündigt. Denn der bedeute "mehr Bürokratie, mehr Verbote, weniger Innovation und weniger Lebensqualität", schrieb Gero Hocker auf Twitter, agrarpolitischer Sprecher der FDP im Bundestag.
Und was denken Kinder und Jugendliche in Deutschland über das geplante Werbeverbot? Fragt man bei Kindern im Kita- und Grundschulalter, etwa den eigenen, dann hat man meist das Gefühl, auf eine knallharte Zuckerlobby zu treffen. Doch auch viele Ältere wollen sich ungern etwas vorschreiben lassen in Sachen Ernährung.
Snacks als Mittagessen für Schüler
So wie die Teenager, die an diesem sonnigen Märztag ihre Mittagspause in der Bonner Südstadt genießen. Im Pulk verlassen sie den Pausenhof ihrer Schule, wechseln auf die andere Straßenseite, zum Supermarkt. Wenig später kommen die Jugendlichen zurück, in der Hand halten einige Schokokekse, Limonade in Dosen, Chips und Süßgebäck.
Noah, 18, biegt nach der Gruppe um die Ecke, er hat keine Süßigkeiten dabei. "Ich finde, Werbung für Ungesundes sollte verboten werden", sagt er der DW. "Man muss sich ja nur anschauen, wie viele Menschen heutzutage übergewichtig sind - ich sehe das täglich in der Schule." Der junge Mann in der schwarzen Jacke hat es eilig, sein Unterricht beginnt gleich. "Ich bin Sportler. Ich versuche, auf Süßes zu verzichten", sagt er der DW. Etwa auf die Schokoladenbonbons aus der Werbung. Denn die schmecken vielleicht nach Spaß, bestehen aber zu 52 Prozent aus Zucker.