Corona: Boris Johnson gibt nach
31. Oktober 2020Joan Plans Laplana hat Angst. Dem erfahrenen Krankenpfleger aus Sheffield in Nordengland steckt die erste Corona-Welle noch in den Knochen. Und die zweite könnte noch schlimmer werden, fürchtet er, "wie bei der Spanischen Grippe", am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, wo die zweite Welle für wesentlich mehr Todesfälle verantwortlich war als die erste.
Das Universitätskrankenhaus, in dem er arbeitet, war im Frühsommer das einzige in der Region, das noch einigermaßen funktionierte, das Patienten von umliegenden Krankenhäusern aufnehmen konnte, sagt er. Nun häufen sich wieder die COVID-19-Fälle, die Intensivbetten füllen sich schnell.
Sheffield lag bisher in einer sogenannten Tier-3-Region, wo zurzeit die schärfsten Einschränkungen gelten: Pubs, die kein Essen anbieten, müssen schließen und Treffen zwischen Menschen aus verschiedenen Haushalten sind stark eingeschränkt. Bisher gab es regionale Abstufungen - nun gibt der britische Premierminister nach wochenlangem Zögern nach und beschließt einen englandweiten Lockdown. Restaurants, Pubs, Geschäfte außer Supermärkten müssen schließen; Schulen und Universitäten bleiben offen.
Regionale Regeln zu zaghaft?
Für Joan Plans Laplana kommt das zu spät. Schon im Frühjahr hatte Johnson sich zunächst gegen einen Lockdown gesperrt, das brachte ihm damals viel Kritik ein. "Er hat aus seinem Versagen nicht gelernt", meint der gebürtige Spanier, der schon seit zwanzig Jahren in Großbritannien lebt und einmal sogar zum "Krankenpfleger des Jahres" gewählt wurde. Johnson habe den Lockdown zu spät verordnet, zu früh wieder aufgehoben und nun wiederhole er den Fehler, weil er der Wirtschaft nicht schaden wolle.
Tatsächlich hatte die Expertenkommission SAGE, die die britische Regierung offiziell in Corona-Fragen berät, angesichts steigender Infektionen schon im September eine erneute landesweite Ausgangssperre gefordert - und ansonsten vor "katastrophalen Konsequenzen" gewarnt. Eine neue Studie der angesehenen Universität Imperial College in London schätzt sogar, dass sich jeden Tag fast 100.000 Briten neu mit dem Virus infizieren - Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Maßnahmen à la Macron oder Merkel einfordern.
Besonders im Norden Englands, der zurzeit am stärksten betroffenen Region, wünschten sich viele schärfere Maßnahmen: "England muss dem Beispiel Frankreichs und Deutschlands folgen, wir müssen den Kreislauf komplett unterbrechen. Jetzt ist die Zeit zum Handeln", twitterte zum Beispiel Dominic Harrison, Chef des Gesundheitsamtes in Blackburn.
Regierungspartei scheut strengen Lockdown
Innerhalb der Regierung herrscht anscheinend Uneinigkeit über den Corona-Kurs. Außenminister Dominic Raab, de facto Stellvertreter von Premierminister Johnson, sagte noch am Freitag im Interview mit der BBC, die Regierung wolle das Virus gezielt treffen, und dazu gehöre es auch weiterhin, regional unterschiedlich streng vorzugehen. Und bei einer Abstimmung Mitte Oktober stimmten 42 konservative Abgeordnete gegen Maßnahmen wie die frühere Schließung von Pubs und Restaurants.
Einige Experten fürchten, dass es für einen temporären nationalen Lockdown zu spät ist. Ein Manager in einem der größten Londoner Krankenhäuser, der namentlich nicht genannt werden möchte, weist darauf hin, dass einige Kliniken bereits überfordert sind, zum Beispiel geplante Operationen absagen müssen.
In der Hauptstadt sei die Situation noch nicht so schlimm wie im Norden Englands, aber man wisse nie, wie schnell das Virus außer Kontrolle gerät - auch in London. Auch er meint, die Regierung hätte schon im September der Empfehlung der Expertenkommission folgen und schneller eingreifen sollen.
Der Epidemiologe Jeremy Farrar, Mitglied der britischen Expertenkommission SAGE, twittert: "Die beste Zeit zum Handeln war vor einem Monat. Die zweitbeste Zeit ist jetzt."
AI: Patienten zum Sterben entlassen
Ein großes Problem des britischen Gesundheitssystems ist die im OECD-Vergleich geringe Anzahl von Krankenhausbetten. Selbst in ruhigen Zeiten sind es laut Ärzteorganisation British Medical Association zu wenige. Und in der Corona-Krise wurde es fatal: Im Frühjahr seien besonders ältere Menschen ohne Test aus den Krankenhäusern in Altersheime entlassen worden - laut Amnesty International viele von ihnen zum Sterben. Das soll sich nicht wiederholen, und auch Routineoperationen, Krebsbehandlungen, Vorsorgeuntersuchungen sollten nicht wie im Frühjahr und Sommer abgesagt oder verschoben werden müssen.
"Aber wie sollen wir das schaffen, wenn es immer mehr COVID-Patienten gibt?", fragt Joan Plans Laplana. Selbst wenn die im Frühsommer aus dem Boden gestampften neuen Nightingale-Krankenhäuser wieder in Betrieb genommen würden - es gäbe nicht genügend medizinisches Personal, um alle Kranken zu versorgen. Dazu käme: Ärzte und Schwestern seien noch erschöpft von dem, was sie in der ersten Welle der Epidemie leisten mussten. "Es war wie im Krieg", sagt der Krankenpfleger. "Jetzt sind wir müde. Wir haben einfach nicht mehr dieselbe Energie."