Zweiter Anlauf für Frieden in Kolumbien
13. November 2016Auf der zentralen Plaza de Bolívar in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá lagen sich die Menschen in den Armen, weinten und feierten, als sie die Nachricht hörten: Vertreter der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla haben ihren vor sechs Wochen abgelehnten Friedensvertrag in Windeseile überarbeitet und in der Nacht zu Sonntag ein neues Abkommen vorgelegt. Ende September hatte der Verhandlungsführer der Regierung, Humberto de la Calle, noch gesagt, sie hätten die "bestmögliche" Übereinkunft gefunden, stellte er nun fest: "Heute erkenne ich mit aller Bescheidenheit an, dass dieser Vertrag besser ist."
Die Beteiligten seien maßgeblich auf die Forderungen der Opposition eingegangen. So weit, dass der Chefunterhändler der FARC, Iván Márquez, nach der Unterzeichnung am Samstag im kubanischen Havanna konstatierte: "Wir sind an die Grenzen dessen gegangen, was zumutbar und akzeptabel ist für eine politisch-militärische Organisation, die nicht mit Waffen besiegt wurde."
Der historische Friedensvertrag zwischen der marxistischen Rebellenarmee FARC und der kolumbianischen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos sollte den seit den 1960er Jahren anhaltenden Bürgerkrieg beenden. Doch die Kolumbianer hatten ihn am 2. Oktober in einem Referendum mit knapper Mehrheit abgelehnt. Ob das neue Abkommen für einen dauerhaften Friedensschluss reicht, bleibt fraglich.
Zu große Zugeständnisse
Wortführer des Nein-Lagers ist Senator Álvaro Uribe. Der Ex-Präsident gilt vielen als Hardliner: Während seiner Amtszeit 2002 bis 2007 hatte er die FARC massiv bekämpft und militärisch geschwächt. Gleichwohl sehen viele Beobachter in seiner Politik die Grundlage dafür, dass die FARC 2012 Friedensverhandlungen mit der Regierung Santos aufnahmen. Zunächst hatte Uribe Santos' Gespräche mit den Rebellen kategorisch abgelehnt, später darauf gedrängt, den Rebellen weniger Zugeständnisse zu machen.
In erster Linie hatten Uribe und seine Mitstreiter die geringen Strafen und die vorgesehene politische Teilhabe der Terroristen kritisiert, weil dies die Interessen der Opfer verletze.
Schätzungen zufolge wurden bis zu acht Millionen Menschen im Laufe des Bürgerkriegs unmittelbar bedroht, vertrieben, entführt, gefoltert, vergewaltigt oder sie verschwanden spurlos. Bis zu 270.000 Menschen sollen im Zusammenhang mit dem Konflikt getötet worden sein. Unter den mutmaßlichen Tätern sind Guerillakämpfer, Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte und Paramilitärs.
Gegenseitige Vorwürfe
Das vielleicht prominenteste Entführungsopfer der FARC hingegen, die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, befürwortet den Friedensvertrag und bezweifelt, dass es den Gegnern um Gerechtigkeit geht. Sie vermutet, dass hinter deren Nein-Kampagne politische und finanzielle Interessen stehen, weil sie vom Fortdauern des Konflikts profitierten.
Kritik kam auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International etwa befürwortete den Friedensprozess zwar stets, sah aber in verschiedenen Punkten internationale Standards unterlaufen. Auch der Chef von Human Rights Watch America, der chilenische Jurist José Miguel Vivanco, wies immer wieder auf grobe Verstöße gegen internationale Rechtsnormen in dem Vertrag hin. Zum Beispiel verurteilte er, dass selbst die Kommandeure der verschiedenen Konfliktparteien durch ein umfassendes Geständnis ohne Gefängnisstrafe davonkommen könnten.
Härtere Verfahren für Ex-Guerilleros
Unter anderem in diesem Punkt scheinen die Unterhändler nachgebessert zu haben: Begnadigungen sollen nun lediglich Kämpfern unterer Hierarchieebenen zuteil werden. Zudem wurden die Bedingungen verschärft: Nur wer neben einem Geständnis auch seine persönlichen Besitztümer deklariert und zur Entschädigung der Opfer bereitstellt, darf auf Strafmilderung hoffen.
Ein weiterer wichtiger Kompromiss sei im Zusammenhang mit der von der FARC geforderten Landreform gefunden worden: Bestehende Eigentumsrechte an agrarisch genutzten Flächen sollen nun erfasst und gesichert, nicht aber verändert werden.
Auch die künftige politische Teilhabe der Guerilleros sei beschnitten worden. Die staatliche Finanzierung der politischen Partei, die sich aus der entwaffneten FARC bilden soll, wurde auf das Normalmaß reduziert. Zudem darf sie bei Unterhauswahlen keine Kandidaten in den vom Konflikt betroffenen Regionen aufstellen.
Frieden weiter fraglich
Die nun überarbeitete Fassung des Friedensvertrages soll zügig im Internet veröffentlicht werden. Beide Parteien haben erklärt, sie seien den Forderungen der Gegner in 56 von 57 Punkten entgegengekommen. Oppositionsführer Uribe indes zeigte sich am Samstag skeptisch und erbat sich Zeit, um das umfassende neue Vertragswerk eingehend zu prüfen und mit Opferverbänden zu besprechen. Der oppositionelle Senator Alfredo Rangel twitterte bereits: "Das neue Abkommen gibt Kriminellen Sitze im Kongress ohne Gefängnis oder Freiheitsentzug."
Mit einem Friedensschluss zwischen Regierung und FARC wäre der opferreichste Konflikt Lateinamerikas seit den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien Anfang des 19. Jahrhunderts beendet. Dem Ende des Bürgerkriegs in Kolumbien stünde dann noch die kleinere, aber noch radikalere Guerillagruppe ELN entgegen.
Im Oktober hatte die ELN als Zeichen der Annäherung eine Geisel an des Rote Kreuz übergeben. Weitere Freilassungen, insbesondere die des ehemaligen Kongressabgeordneten Odín Sánchez, macht die Guerilla jedoch von der Begnadigung inhaftierter Kampfgefährten abhängig.
Santos' Lebenswerk
Den neuen Friedensvertrag mit der FARC könnte Präsident Santos mit einer Abstimmung im Kongress ratifizieren, eine erneute Volksbefragung wäre also nicht nötig. Dennoch bleibt die öffentliche Meinung für sein Projekt wichtig. Denn 2018 wählt Kolumbien eine neue Regierung. Santos darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten, zudem deuten seine Umfragewerte nicht gerade auf einen Wahlsieg seiner Partei hin.
Will Santos dem Friedensprozess, seinem politischen Lebenswerk, also Kontinuität geben, muss er ihn über den Tag hinaus legitimieren. Dies gilt umso mehr, als der frisch ausgehandelte Text noch eine weitere Änderung beinhaltet: Der neue Vertrag soll keinen Verfassungsrang mehr haben, könnte also viel leichter rückgängig gemacht werden als der ursprüngliche.