Zwietracht in der Vielfalt
24. Februar 2003Der gut 50 Millionen Einwohner starke Bundesstaat Gujarat ist das Symbol für die innenpolitischen Spannungen in Indien. Seit Februar 2002 herrscht Gewalt zwischen Hindus und Muslimen in der wirtschaftlichen Vorzeige-Region, die zugleich Hochburg der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP ist.
Im Februar letzten Jahres fielen 59 national-religiöse Hindu-Aktivisten einem Brandanschlag, dessen Umstände bis heute noch nicht geklärt sind, zum Opfer. Es heißt, Islamisten wären für die Tat verantwortlich. Der Brandanschlag löste eine brutale Hetzjagd auf Muslime aus. Dabei kamen mehr als 1.000 Menschen um. Wenige Monate später, im September, überfielen vermutlich islamistische Männer einen Tempel und richteten ein Blutbad unter Hindus an. Anschläge diesen Ausmaßes gibt es normalerweise nur in der Dauerkrisenregion Kaschmir.
Radikalisierung
Der Chefminister von Gujarat, Narendra Modi, nutzte die Gunst der blutigen Stunden für die Regionalwahlen im vergangenen Dezember. Er propagierte die Vorherrschaft der Hindus als Garant für die Sicherheit in seinem Bundesstaat. Mit dem der Bevölkerungsmehrheit der Hindus genehmen Staatskonzept "Hindutva: Hindu-Staat" ging er auf Stimmenfang . Im Wahlkampf wurde die oppositionelle Kongress-Partei als Sachwalter der muslimischen Interessen verunglimpft. Schon allein die Forderung nach Ausgleich und Toleranz galt der BJP als suspekt.
Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Die Hindu-Nationalisten errangen eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Damit wurde einer der Gründungsgrundsätze der indischen Republik untergraben. Dieser lautet "Einheit in der Vielfalt". Bisher wählte Indien in den Zeiten aufgeheizter Emotionen stets die Rückkehr zum Säkularismus. Damit scheint es vorerst vorbei zu sein.
Das Atomgespenst
Auch in der Außenpolitik gibt es keine Anzeichen von Deeskalation. Die ohnehin alles andere als rosigen Beziehungen zu Pakistan haben sich im vergangenen Jahr derart verschlechtert, dass viele einen Atomkrieg zwischen den beiden Ländern fürchten. Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee ließ für den Fall pakistanischen Einsatzes von Nuklearwaffen keinen Zweifel daran, dass das Nachbarland von der Bildfläche verschwinden werde.
Hauptgrund für diese äußerst aggressive Rhetorik ist die Krisenregion Kaschmir, um die sich Indien und Pakistan seit gut 50 Jahren streiten. Die permanenten Spannungen in der Region lösten bereits zweimal einen Krieg zwischen den beiden Staaten aus. Selbst in sogenannten Waffenstillstandszeiten beschießen sich die verfeindeten Armeen regelmäßig.
Krieg vor der Haustür?
Sowohl die angespannte innenpolitische Lage, als auch die befürchtete Eskalation im Kaschmir-Konflikt sind denkbar schlechte Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. In Zeiten der Globalisierung brauchen Länder wie Indien das Vertrauen internationaler Anleger. Doch so lange die hinduistische Regierungspartei BJP immer wieder auf die Taktik verfällt, mit Ressentiments und Pogromen gegen Minderheiten auf Stimmenfang zu gehen, ist das Vertrauen begrenzt.
Auch wenn es die nicht gerade friedensfördernde Haltung der indischen Regierung nicht unbedingt vermuten lässt, die Politiker der BJP wissen sehr wohl um die fragile wirtschaftliche und politische Situation im Land. Daher auch ihr vehementes "Nein" zu einem möglichen Irak-Krieg. In Neu-Delhi fürchtet man nicht nur das weitere Ansteigen der Ölpreise, sondern eine komplette Destabilisierung der Region. Beobachter mutmaßen bereits, dass der amerikanische Präsident Bush nach einem Feldzug im Irak und der darauf folgenden weiteren Radikalisierung islamistischer Freiheitskämpfer auch im muslimischen Pakistan "aufräumen" werde. Damit wäre ein weiterer Krieg direkt vor Indiens Haustür.