Zum Tode von Haro Sendt: Erinnerungen an "Der sanfte Lauf"
9. Februar 2016Wie ist es in Deutschland im Schicksalsjahr 1968 zugegangen? Was wollten die jungen Leute und Studenten damals? Wogegen lehnten sie sich auf? Das Kino jener Zeit, aber auch später zeigt uns meist Bilder von Studentenunruhen und gewaltsame Proteste gegen das herrschende Establishment. Man erfährt viel über die Keimzellen des deutschen Links-Terrors der 1970er Jahre, trifft auf die RAF, auf Andreas Baader oder Ulrike Meinhof.
"Der sanfte Lauf" zeigt stellvertretend die Generation der 1960er
Natürlich sind all diese Personen und Ereignisse Ausdruck dieser Zeit - und für die Historiker von heute von großem Interesse. Doch die Molotow-Cocktails werfenden Studenten standen nicht für die Masse, von Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Co. ganz zu schweigen. Die große Mehrheit der jungen Menschen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre war weniger aufmüpfig. Gerade deshalb sind Filme wie "Der sanfte Lauf" möglicherweise viel aussagekräftiger und relevanter, wenn man sich ein umfassendes Bild von der Jugend dieser Zeit machen will.
In "Der sanfte Lauf" (1967) spielt Bruno Ganz in seiner ersten Kinohauptrolle den jungen Bernhard Kral, der sein Studium abbrechen muss, nachdem er sich bei einer Kneipenrauferei gegen die dumm-dreisten Sprüchen eines Neo-Nazis wehrt und kommt dafür ins Gefängnis. Danach jobbt er in einem Antiquitätengeschäft. Eines Tages lernt er die junge Johanna Benedikt - gespielt von Verena Buss - kennen, in die er sich verliebt.
Film über privates Glück und berufliches Weiterkommen
Die beiden werden ein Paar. Johanna stammt aus einer Unternehmerfamilie. In der Firma des Vaters bekommt Bernhard einen Job, steigt dort zum Abteilungsleiter auf - was Bernhard nicht weiß: Nur aufgrund der Protektion durch seinen Schwiegervater in spe erklimmt er höhere Positionen. Doch Bernhard merkt mit der Zeit, dass er sich in der Umgebung der Familie Benedikt nicht wohlfühlt. Der Unternehmer und dessen Freunde entpuppen sich als arrogante, selbstherrliche Menschen mit konservativem Weltbild.
Zwischen Bernhard und der älteren Generation tut sich ein deutlich wahrnehmbarer Riss auf. Es ist der vielbeschriebene Graben, der die '68er von der älteren Generation, die in Krieg und Nationalsozialismus verstrickt war, trennt. Doch nicht jeder wird deshalb damals radikal. Man darf getrost davon ausgehen, dass sich die meisten Heranwachsenden mehr oder weniger opportun zum System verhielten. Auch Bernhard passt sich in "Der sanfte Lauf" den Gegebenheiten an; wenn auch widerwillig und in dem Wissen, dass ihn wenig mit den Älteren verbindet.
Bruno Ganz brilliert in seinem Debüt
Dabei zeichnet Haro Senft Bernhards Charakter alles andere als unsympathisch. Im Gegenteil: Der junge Bruno Ganz verleiht der Figur Tiefe und stattet sie mit vielen psychologischen Facetten aus. Es ist Haro Senft hoch anzurechnen, in diesem Film über die Bundesrepublik der 1960er Jahre mit der Figur Bernhard Kral einen Charakter zu schenken, der stellvertretend für eine ganze Generation steht. Einer, der wohl sehr viel typischer war als all die durchgeknallten Hippies und die Terroristen, denen sich Film und Fernsehen so oft angenommen haben: "Sie verzichten auf Parolen, den kämpferischen Gestus, die linke Gesinnung, geben ihre Unsicherheit, ihre Verwirrung zu" - so der Filmkritiker Wilhelm Roth über die Figur Bernhard Kral im Booklet der DVD.
Oberhausener Manifest - Kampfansage an das verstaubte Nachkriegskino
Nach seinem Langfilm-Debüt hat Haro Senft nur noch einen einzigen Spielfilm (für ein erwachsenes Publikum) gedreht. Bereits Anfang der 1970er Jahre wandte er sich dem Kinderfilm zu und wurde zu einem der profiliertesten Vertreter dieses meist wenig beachteten Genres. Einige Jahre reiste er auch für das Goethe-Institut in Sachen Kinderfilm um die Welt. Vor "Der sanfte Lauf" hatte Senft eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des berühmten "Oberhausener Manifest" von 1962 gespielt. Die 26 Unterzeichner hatten sich damals auf die Fahnen geschrieben, das konventionelle, schwerfällige und rein kommerziell orientierte deutsche Nachkriegskino mit frischen Ideen und einer neuen Formensprache abzulösen. Senft war einer der zentralen Wegbereiter dieser wichtigen Erneuerungsbewegung des deutschen Kinos: "Haro Senft war ein Schwungrad der bundesrepublikanischen Filmerneuerung", so der Filmpublizist Olaf Möller.
Haro Senft wird 1961 mit "Kahl" für den Oscar nominiert
Bereits einige Jahre zuvor hatte sich der 1928 als Sohn deutscher Eltern im böhmischen Budweis geborene Regisseur in verschiedenen Manifesten und Konzeptpapieren Gedanken über die Zukunft des deutschen Kinos gemacht. Diese Ideen flossen in das Oberhausener Manifest ein. Doch Senft war einer der Stillen in der Szene. So war es auch nicht er, der beim Kurzfilm-Festival in der Ruhrgebiets-Stadt den Text des Manifestes verlas, sondern Alexander Kluge.
Senft hat ab Mitte der 1950er Jahre zahlreiche Kurzfilme inszeniert. Weitgehend vergessen ist heute, das Senft der erste deutsche Filmemacher einer nachwachsenden Regie-Generation war, der für einen Oscar nominiert wurde: 1961 für den Kurzfilm "Kahl", der die Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks zum Thema hat.
Haro Senft bekam 2012 die Berlinale-Kamera
Vor vier Jahren wurde Haro Senft bei den Berliner Filmfestspielen mit einer Berlinale-Kamera geehrt. Er erhielt die Auszeichnung aus den Händen von Festivalchef Dieter Kosslick. Der Regisseur konnte den Preis 2012 in Berlin nicht persönlich entgegennehmen. Das bewegende Gespräch zwischen Kosslick und Senft in dessen Münchner Wohnung ist auf der DVD-Edition von "Der sanfte Lauf" zu sehen. Ber der 66. Berlinale ist Senfts Debüt einer der Höhepunkte innerhalb der Retropsketive "Deutschland 66".
Haro Senft: Der sanfte Lauf, Deutschland 1967, 89 Minuten. Auf der DVD sind außerdem sieben Kurzfilme des Regisseurs, darunter der 1961 für einen Oscar nominierte "Kahl". Anbieter der DVD: Absolut Medien.