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Zwischen Theorie und Praxis

Sandra Petersmann9. Dezember 2003

"Alle Bürger Afghanistans haben die gleichen Rechte und Pflichten." Das soll in der Verfassung stehen. DW-Reporterin Sandra Petersmann hat darüber mit einer Jugendaktivistin in Kundus diskutiert.

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Burka und Buntes: Frauenleben in AfghanistanBild: AP

Fatima Mohammadi hat es satt, dass man ihr sagt, was sie zu tun und zu lassen hat, weil sie eine Frau ist. Sie ist 19 Jahre alt, geht in die elfte Klasse und möchte nach der Oberschule Rechtswissenschaften und Politik in Kabul studieren. Die Unterstützung ihrer Eltern hat sie, aber das reicht nicht, um als junge Frau in Kundus genauso behandelt zu werden wie ein junger Mann.

"Ich bin überzeugt, dass wir uns selber organisieren müssen, um unsere Rechte durchzusetzen", sagt Fatima. Deshalb hat sie vor ein paar Wochen die Vereinigung junger Frauen und Mädchen gegründet. "Wir müssen der Gesellschaft beibringen, was unsere Rechte eigentlich sind, dass unsere Rechte Menschenrechte sind."

Alltag unter Frauen

Fatima lächelt. Die zierliche junge Frau mit den Grübchen und den langen schwarzen Haaren lehnt sich nach der ersten Antwort im ersten Radiointerview ihres Lebens entspannt zurück. Sie atmet tief durch. Dann ballt sie die Faust. "Das größte Problem, das wir haben ist, dass es immer noch keine Sicherheit gibt. Und dass wir uns immer noch nicht frei bewegen können", erzählt sie.

"Wir wollen uns gerne gesellschaftlich engagieren, aber immer noch sind überall Männer, die uns kontrollieren und die uns in die Schranken weisen." Die Aktivistin aus Kundus erzählt von einem Mädchen aus ihrer Nachbarschaft, das über Nacht verschwunden ist. Einfach weg. Keine Spur. Kein Wort der Klarheit von den Eltern. Haben sie ihre Tochter vielleicht zur Heirat verkauft? Schweigen. Das Mädchen ist jetzt schon seit einem Monat verschwunden, aber Fatima will nicht locker lassen.

Gleiche Rechte für alle?

"Es geht mir um Menschenrechte. Um das Recht auf Unversehrtheit, um das Recht auf politische Beteiligung, um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das sind lebenswichtige Rechte für alle Menschen." Soweit die Theorie.

"Solange wir Frauen diese Rechte nicht haben, kann einfach ein Mädchen verschwinden und nie wieder auftauchen - ohne dass sich jemand darum kümmert." Soweit die Praxis. Fatima setzt große Hoffnungen in die neue Verfassung, die eine große Ratsversammlung ab dem 10. Dezember 2003 in Kabul beraten wird. Die 19-Jährige wünscht sich einen starken Präsidenten, direkt vom Volk gewählt.

"Ich habe mich an der öffentlichen Befragung zur Verfassung beteiligt und alles in den Fragebogen geschrieben, den ich ausgefüllt habe. Das wichtigste für mich ist, dass diese Verfassung nicht nur ein Papier bleibt, sondern dass sie auch umgesetzt wird", fordert sie. Und gleich hinterher kommt das "Aber": " Ich wünsche mir so sehr, dass diese Verfassung nicht nur in Kabul gilt, sondern überall in Afghanistan. Für uns in der Provinz bleibt sie doch nur ein Stück Papier, wenn wir keine starke Zentralregierung bekommen und wenn die lokalen Kommandanten nicht entwaffnet werden", mutmaßt Fatima.

Verfassung öffentlich diskutieren

Fatima schiebt ihren weißen Seidenschleier aus der Stirn und schlägt die Beine übereinander. Unter ihrem hochgeschlossenen schwarzen Mantel tauchen feine Stöckelschuhe mit silbernen Ornamenten auf. Die 19-jährige Oberschülerin zieht einen Brief aus der Tasche, den sie an Lehrer, Ärzte und reiche Geschäftsleute in der Stadt verteilt. Es ist ein Aufruf an die Elite, über die neue Verfassung für Afghanistan zu sprechen. Wann immer möglich.

"Die meisten Menschen wissen überhaupt nicht, was in dem Verfassungsentwurf steht. Und viele Leute haben keine Ahnung, was eine Verfassung überhaupt ist", sagt sie. "Solange wir es nicht schaffen, den Leuten die Bedeutung zu vermitteln, so lange haben wir ein Problem, unser Land zu erneuern. Deshalb ist es die Aufgabe von allen, die lesen und schreiben können, für die neue Verfassung zu arbeiten."