"Ägypten braucht nachhaltige Politik"
5. Januar 2013Deutsche Welle: Die wirtschaftliche Situation in Ägypten hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Welche Auswirkungen hat diese Situation auf die Bevölkerung?
Das sind natürlich keine guten Neuigkeiten für die Bevölkerung. Die Regierung fügt sich, teils freiwillig, teils unter Druck, den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Abschaffung von Subventionen zum Beispiel wird größtenteils die Schwächsten der ägyptischen Gesellschaft treffen. Und das wird mit Sicherheit zu Aufruhr von verschiedenen Seiten führen. Sowohl von denen, die auch bisher schon gegen die islamistische Regierung waren, aber auch vom Kern der Unterstützergruppen in den Provinzen.
Haben politische Faktoren zum wirtschaftlichen Niedergang beigetragen?
Ja, auf jeden Fall. Die Struktur des Veränderungsprozesses in Ägypten war, aus politischer Sicht, für die Muslimbruderschaft sehr förderlich. Sie konnte, in stiller Kooperation mit dem Militär, ihre Macht stärken. Der Preis dafür war eine Strategie, die die wirtschaftliche und politische Situation unsicherer gemacht hat, auch auf ganz elementaren Gebieten. Durch die unsichere politische Lage ist Ägypten für Touristen nicht gerade attraktiver geworden. Aber noch schwerwiegender ist, dass die scheinbare Ziellosigkeit des Transformationsprozesses die Formulierung einer klaren Wirtschaftspolitik verhindert hat. Einer Wirtschaftspolitik, die das tut, was sie tun müsste, nämlich die nachhaltige und integrative Entwicklung in Gang zu setzen, die Ägypten so sehr benötigt. Alles in allem hatte der politische Wandel einen sehr negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung.
Die Muslimbruderschaft ist momentan der Entscheidungsträger für politische und wirtschaftliche Beschlüsse. Wird sie für die aktuelle Situation zur Verantwortung gezogen?
Aus meiner Sicht gibt es viele Hinweise darauf, dass sie, wenn nicht kurzfristig, zumindest mittelfristig an den Wahlurnen zur Verantwortung gezogen wird. Im Jahr 2012 gab es viele Proteste, zum Beispiel im November gegen Mohammed Mursis Verfassungsentwurf. Das hat gezeigt, dass es eine recht starke Mobilisierung gegen die Muslimbruderschaft gibt und dass diese an Unterstützung bei Teilen ihrer traditionellen Gefolgschaft verloren hat. Sie kann sich nicht mehr so sehr wie vorher auf diese massenhafte Zustimmung verlassen. Beim Referendum über die Verfassung beispielsweise gab es ein sehr gespaltenes Wahlverhalten. Auf der einen Seite waren da die Metropolregionen Alexandria und Kairo, die sich, wenn auch nur recht knapp, gegen den Verfassungsentwurf ausgesprochen haben. Auf der anderen Seite gab es die weniger bevölkerten Provinzen, wo die Bruderschaft im Vergleich zur Opposition einen größeren Wählerstamm hat. Diese Provinzen votierten mit großer Mehrheit für den Verfassungsentwurf und wurden übrigens wirtschaftlich am schwersten getroffen.
Es gibt Anzeichen für einen Rückgang an Unterstützung, jedoch glaube ich, dass es bei den nächsten Wahlen keinen großen Einbruch geben wird. Die Muslimbruderschaft bleibt die bei weitem größte und am besten organisierte politische Kraft in Ägypten. Und das an sich hat ausgereicht, um mehrere Abstimmungen erfolgreich zu meistern und ist übrigens auch der Grund dafür, dass sie so darauf drängt, über nationale politische Fragestellungen abstimmen zu lassen.
Was muss sich denn ändern, um die Situation in Ägypten zu verbessern?
Das kommt ganz darauf an, was man unter "verbessern" versteht. Aus Sicht der Muslimbruderschaft läuft alles recht gut, die bauen ihre Machtbasis stetig aus. Aus Sicht der Opposition und des ganzen Landes sind die Ergebnisse, wenn man es großzügig betrachtet, bestenfalls sehr gemischt, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Es gibt keine Stabilität, es gibt kein Wachstum und die Touristen sind auch noch nicht zurückgekehrt. Auf politischer Ebene gibt es verschiedene Entwicklungen, die Sorge bereiten, zum Beispiel der Entwurf zur gesetzlichen Regelung von Protesten. Darin sind sehr schwerwiegende Maßnahmen gegen jegliche Art von politischem Protest aufgeführt. In dieser Hinsicht steht das politische Klima in Ägypten zurzeit unter keinem guten Stern.
Andrea Teti ist Dozent an der Universität Aberdeen (Großbritannien) und Senior Fellow am European Center for International Affairs.
Das Gespräch führte Anne Allmeling.