Ägyptens Fußball - Sehnsucht nach Normalität
17. Juni 2019Als Ende März dieses Jahres das Topspiel der ägyptischen Liga auf dem Programm stand, schauten gerade einmal 30 Fans im Borg-al-Arab-Stadion zu. Al Ahly Kairo gegen den großen Lokalrivalen Zamalek war an die Küstenstraße zwischen Kairo und Alexandria verlegt worden. Aus Sicherheitsgründen. Heraus aus der unübersichtlichen Hauptstadt Kairo, hinein in die besser kontrollierbare Provinz. Normalerweise passen 86.000 Zuschauer in das Stadion, das dem Militär gehört. Und normalerweise wäre selbst diese Arena viel zu klein für die zahlreichen Fans beider Klubs. Al Ahly werden allein in Ägypten rund 25 Millionen Anhänger zugerechnet, Zamalek verfügt immerhin noch über ein Fanpotenzial von zehn Millionen. Al Ahly galt früher als Klub der Arbeiterklasse, Lokalrivale Zamalek repräsentierte die Elite. Mittlerweile hat sich das aber gemischt, und beide Klubs haben zahlreiche Anhänger aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Noch kein Normalzustand
Trotzdem waren diesmal lediglich 15 Anhänger jedes Teams zum Spiel des Jahres zwischen den beiden Erstplatzierten der Tabelle von der Polizei zugelassen worden. Passend zur gespenstischen Kulisse endete das Match 0:0. Im Fernsehen wurde es live übertragen, und die Millionen Fans beider Teams bekamen einen faden Kick ohne größere Höhepunkte zu sehen.
So ist es noch immer in Ägyptens Fußball - die Liga lebt - irgendwie. Es wird Fußball gespielt - aber in den allermeisten Fällen ohne Fans im Stadion und ohne Stimmung. "Für uns ist das natürlich keine befriedigende Situation", sagt Mahmoud Moussa. Der 28-Jährige ist glühender Anhänger Al Ahlys, geht für sein Leben gern ins Stadion. Doch Ligaspiele vor Ort zu schauen ist für ihn und seine Freunde tabu. "Wir können unser Team nur am TV verfolgen. Oder bei internationalen Spielen in der afrikanischen Champions League zum Beispiel. Da sind Fans erlaubt", erklärt Moussa.
1. Februar 2012 - die Tragödie von Port Said
Die Situation ist so, wie sie ist, seit der furchtbaren Fußballtragödie von Port Said vor etwas mehr als sieben Jahren. Damals, am 1. Februar 2012, spielte der heimische Klub Al Masry gegen Al Ahly aus Kairo. Anschließend starben bei Ausschreitungen 72 Menschen. Aus Sicht der Al-Ahly-Fans wurde an ihnen ein Massaker verübt. Mit Steinen, Stöcken und Macheten bewaffnete Al-Masry-Anhänger stürmten den Fanblock der Gäste.
Im Moment des Angriffs wurde das Licht im Stadion ausgeschaltet und die Fluchttore verschlossen. Dutzende wurden in der Panik zu Tode getrampelt. Neben den 72 Toten hatten die Kairoer Fußballfans drei Stunden später Hunderte Verletzte zu beklagen.
In einem Prozess drei Jahre später wurden 21 Al-Masry-Anhänger zum Tode verurteilt. Vollstreckt wurde das Urteil bis heute jedoch nicht. Es hätte ohnehin vermutlich nicht die wahren Schuldigen getroffen. Denn die dürften eher in der ägyptischen Politik und im Polizeiapparat des Landes zu suchen sein.
Fans machen den Weg frei - zum Tahrir-Platz
Der Angriff auf die Al-Ahly-Fans war so etwas wie eine Rache des Regierungsapparates. In den Wochen zuvor hatten sich die Al-Ahlawys, wie sich ein Teil der Al-Ahly-Ultras nennt, die Bevölkerung in der zunehmend gewalttätigeren Revolution gegen das Mubarak-Regime unterstützt. Damals, in den entscheidenden Tagen des Arabischen Frühlings, waren in Kairo Brücken und Zugänge zum symbolträchtigen Tahrir-Platz abgeriegelt worden. Die im Umgang mit und im Kampf gegen Polizisten geübten Fußballanhänger setzten sich an die Spitze der Demonstranten und schlugen den Weg zum Demonstrationsplatz regelrecht frei. Ohne die Al-Ahly-Fans wäre Despot Mubarak nicht zu Fall gekommen - so sind sich die meisten Experten heute sicher.
Bis heute nicht erholt
Über sieben Jahre sind seit Port Said vergangen, ohne, dass sich die Situation in den Stadien wieder normalisiert hätte. Als man 2015 versuchte, die Fans bei einer Zamalek-Partie wieder ins Stadion zu lassen, kamen statt der geplanten 10.000 Anhänger mehr als doppelt so viele und der Abend endete erneut in einer Katastrophe. Es kam zu Tumulten vor den Eingängen, erneut verloren 22 Menschen ihr Leben.
Rainer Zobel hat als Trainer die Folgen für den ägyptischen Fußball vor Ort hautnah miterlebt. Der erfahrene Fußballlehrer aus Deutschland, der schon einige Stationen in Afrika und der arabischen Welt hinter sich hat, coachte Al Ahly Ende der 90er Jahre drei Spielzeiten lang. Zwischen 2013 und 2015 saß er dann auf der Trainerbank des ägyptischen Erstligisten El Gouna. "Das Ganze hat dem ägyptischen Fußball natürlich immens geschadet", sagt der heute 70-Jährige. "Es wurde ja sogar monatelang die Liga ganz ausgesetzt und anschließend auch immer wieder unterbrochen. Darunter hat die Qualität der vorher starken ägyptischen Liga stark gelitten. Und auch das Nationalteam hat seine dominierende Stellung auf dem Kontinent eingebüßt", erklärt Zobel.
Zutritt für 5.000 Fans - ganz vorsichtig
Im vergangenen Herbst wurde das Fan-Verbot erneut ganz zaghaft aufgehoben. Für das Spiel der beiden Kairoer Vereine Zamalek und ENPPI wurden 5.000 Fans zugelassen. Tickets konnten nur im Vorfeld erworben werden und wurden nur gegen Abgabe von Namen, Adressen und beruflicher Situation ausgegeben. Diejenigen, die trotz der scharfen Auflagen kamen, gaben alles: Sie jubelten ununterbrochen, schwenkten Fahnen und sangen: "Heute sind wir hier und holen uns die Liga zurück."
Die Frage, ob politische Äußerungen im Fußball erlaubt sind, entzweit auch die Szene der Fußballer selbst. So hat sich Ägyptens aktuelles Idol Mohamed Salah bislang bemüht, jegliche Verbindungen zur Politik zu vermeiden. Spätestens, als der Muslim Salah während der WM 2018 vom tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrov vor den PR-Karren gespannt und zum Ehrenbürger Tschetscheniens ernannt wurde, wies er seine zahllosen Berater an, künftig von solcherlei Auftritten verschont werden zu wollen.
Auf andere Weise in den politischen Fokus geraten ist Salahs Vorgänger Mohamed Aboutreika. Die ägyptische Regierung wirft dem Mittelfeldregisseur von Al Ahly, der zwischen 2001 und 2013 über 100 Länderspiele für Ägyptens Nationalteam bestritt und von den Fans wegen seiner Vereinstreue verehrt wurde, vor, die mittlerweile verbotene muslimischen Bruderschaft, die als Terrororganisation gilt, finanziell unterstützt zu haben. Seit Januar 2017 steht Aboutreika deswegen auf eine Terroristenliste. Der 40-Jährige hat die Vorwürfe aber stets vehement bestritten. Er lebt seither im Exil in Katar.
Soldaten, Polizei, Sicherheit - Ordnungshüter überall
Der Umgang mit Fans und Fußball-Stars ist für Ägyptens Politiker vielleicht eines der wichtigsten und heikelsten Themen bei der Gestaltung der Zukunft des Landes. Es gibt keine andere Organisation oder Institution, die auch nur annähernd eine solche Durchschlagskraft und wirtschaftliche Komponente besitzt wie Al Ahlys Fangemeinde. Einerseits werden zumindest die Ultra-Gruppierungen zweifelsohne als terroristische Vereinigungen angesehen, andererseits braucht man die Fans im Bestreben um den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes. Auch deshalb sind Fans bei Spielen der ägyptischen Nationalmannschaft wieder zugelassen.
Auch bei den Spielen des Afrika Cups wird es keinerlei offensichtliche Beschränkungen geben. Natürlich wird der Sicherheitsapparat immens sein: Soldaten, Geheimdienst und Polizei werden versuchen, sämtliche Bewegungen und Strömungen der Besucher zu beobachten und unter Kontrolle zu behalten.
Rainer Zobel befürchtet, dass das Turnier für Gastgeber Ägypten früh beendet sein könnte: "Spitzenspieler wie Mo Salah sind mittlerweile im Ausland aktiv. Aber das Team ist in der Breite nicht mehr so stark. Das wird sich auswirken", prophezeit der Kenner des ägyptischen Fußballs.