Die EU und Polen: Ratlosigkeit in Brüssel
9. Oktober 2021Die Regierung in Warschau schien am Freitag die Bedeutung des Richterspruches vom Vortag teils zu begrüßen, teils herunterzuspielen. Premier Mateusz Morawiecki, der das Urteil des Verfassungsgerichtes selbst bestellt hatte, erklärte, dass alle Mitgliedsländer in der EU Anspruch auf Respekt hätten: "Es haben nicht manche mehr Rechte als andere". Andererseits schrieb er in den sozialen Medien, er habe nicht die Absicht, Polen aus der EU zu führen. Erklärungen, die jedoch nicht dazu beitragen dürften, die Nerven der anderen EU-Mitglieder zu beruhigen.
EU-Gründerstaaten reagieren entsetzt
Es war der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, berühmt für seine Offenheit, der am Freitag die eindringlichste Formulierung fand: Die Regierung in Warschau "spielt mit dem Feuer", denn der Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht sei grundlegend für das Zusammenleben in Europa. "Wenn das gebrochen wird, wird Europa in der Form wie wir es kennen, wie wir es aufgebaut haben nach den römischen Verträgen, nicht mehr bestehen." Klar sei, dass es in der EU nicht nur "juristisch sondern auch politisch zu einem Bruch kommen kann".
Frankreichs Europaminister Clément Beaune teilt diese Sorge: "Es besteht das Risiko eines de facto Austritts (Polens aus der EU)". Er erinnerte auch daran, dass Polen die EU-Verträge bei seinem Beitritt unterschrieben habe: "Wenn man in einen Club eintritt, dann unterzeichnet man einen Vertrag." Außerdem sei er vom polnischen Volk durch ein Referendum ratifiziert worden. Beaune nannte den Richterspruch aus Warschau einen "Angriff auf die ganze EU".
Der deutsche Außenminister Heiko Maas mahnte die Regierung in Warschau: "Wenn ein Land sich politisch dafür entscheidet, Teil der EU zu sein, muss es auch dafür Sorge tragen, die vereinbarten Regeln voll und ganz umzusetzen." Das europäische Recht müsse geachtet werden. Staatsminister Michael Roth sprach von einer "sehr, sehr ernsten Situation". Er verwies auf Befürchtungen, Polen könne aus der EU austreten. Dabei hätten sich erst kürzlich fast 90 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Mit dem Urteil aber werde der EU "die Geschäftsgrundlage entzogen".
Europäische Rechtsexperten hatten nach dem Urteilsspruch in ersten Reaktionen davon gesprochen, dass sich Polen mit diesem Urteil auf den Pfad zum Polexit begeben habe, einige interpretieren es sogar als de facto Austrittserklärung. Der deutsche Richterbund kommentierte in einer Erklärung am Freitag darüber hinaus, dass das Verfassungsgericht in Warschau mit seinem Spruch "die Axt an die Säulen legt, auf denen die Europäische Union ruht".
Der Ball liegt bei der EU-Kommission
Den Auftrag zum Handeln hat in dieser Lage die EU-Kommission in Brüssel, deren Rolle es ist, die EU-Verträge zu wahren. Sie hat bisher den jahrelangen Streit mit der PiS-Regierung in Warschau eher vorsichtig betrieben. Zwar strengte sie immer wieder Verfahren gegen Polen beim europäischen Gerichtshof an, die die Regierung reihenweise verlor. Zuletzt erklärte der EuGH, die neue Disziplinarkammer für polnische Richter sei unvereinbar mit Gemeinschaftsrecht, weil es die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet.
Bislang aber hatte die Kommission den ganz großen Eklat vermieden, denn am Ende muss der Kampf vom Europäischen Rat geführt werden. Dort aber ist zu erwarten, dass etwa ein Entzug des Stimmrechts für Polen, die härteste Maßnahme aus einem sogenannten Artikel-7-Verfahren, immer am Widerspruch Ungarns scheitern könnte. Die beiden nationalkonservativen Regierungen in Warschau und Budapest schützen sich seit Jahren gegenseitig.
Finanzielle Sanktionen?
Möglich sind jedoch finanzielle Sanktionen. Die rund 24 Milliarden Euro, die Polen aus dem Corona-Recovery Fund zu bekommen hätte, sind bisher eingefroren. Und der neue Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus könnte greifen, sobald die Kommission bereit ist, ihn anzuwenden. Bislang hatte sie darauf verzichtet, weil Polen und Ungarn die Rechtmäßigkeit der Maßnahme vom EuGH überprüfen lassen wollen. Die Kommission könnte ihre Meinung aber ändern, einen schwerwiegenden Verstoß in Polen feststellen und auch die jährliche Zahlung von 12 Milliarden Euro aus dem Regionalfonds der EU aussetzen.
Besonders im Europaparlament ist der Zorn gegen Polen groß und Abgeordnete der konservativen EVP, der Sozialisten, der Grünen und der Liberalen fordern einhellig, dass europäische Steuerzahler nicht die "Autokratie" in Warschau finanzieren sollten. "Wenn europäische Rechtsakte nicht mehr anerkannt werden, ist es fraglich, ob Polen weiter von den enormen Mengen von EU-Geldern profitieren kann, die es gegenwärtig erhält", erklärte die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier.
"Dammbruch nicht durchgehen lassen"
Auch die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, zeigte sich empört. "Die polnische Regierung lässt sich von ihrem politisch besetzten Verfassungsgericht bescheinigen, dass sie sich künftig nicht mehr an europäisches Recht halten muss", sagte die SPD-Politikerin der Zeitung "Die Welt". Die Europäische Kommission dürfe der polnischen Regierungspartei PiS "diesen Dammbruch" nicht durchgehen lassen. "Sie darf keine europäischen Corona-Milliarden nach Warschau geben und muss auch sonstige Fördergelder sperren."
Bislang aber hält sich Kommissionschefin Ursula von der Leyen bedeckt. Sie habe ihren juristischen Dienst angewiesen, das Urteil gründlich und zügig zu analysieren, dann werde man die nächsten Schritte beschließen. Auf einen Zeitraum will sie sich nicht festlegen aber eines ist klar: Nach dieser erneuten "Provokation der EU durch Polen" wie Frankreichs Clément Beaune das Urteil nannte, muss die Antwort eindeutig ausfallen.
Warschauer Schicksalstag
"Ich bin tief besorgt über das gestrige Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes", schrieb von der Leyen am Freitag. EU-Recht schütze sowohl polnische als ausländische Bürger und Unternehmen, die in Polen Geschäfte machten. "Alle Urteile des europäischen Gerichtshofes sind bindend für alle Behörden der Mitgliedsländer, einschließlich nationaler Gerichte", stellte die Präsidentin noch einmal klar. Aber das weiß im Prinzip auch die polnische Regierung, die jetzt den politischen Machtkampf mit der Kommission sucht.
Es ist ein Kampf, in dem Brüssel sich durchsetzen muss, sonst können schnell Nachahmer in anderen osteuropäischen Ländern auf den Plan treten - und Rechtssicherheit und Einheit in der EU wären dahin. Wegen dieser Gefahr auch haben viele Reaktionen nach dem Warschauer Schicksalstag einen beinahe apokalyptischen Unterton. Die Gefahr weiterer Spaltung scheint vielen Politikern in der EU inzwischen deutlicher denn je, und die Union verfügt nur über begrenzte Mittel, abtrünnige Mitgliedsländer zur Raison zu bringen.