"Ich schreibe, damit sich die Mächtigen schämen!"
16. Oktober 2017DW: Wie schon in Ihrem ersten Roman "Das Ende von Eddy" erzählen Sie auch diesmal streng autobiographisch. Warum?
Édouard Louis: Die Welt ist bereits übersättigt mit Fiktion, aufgebaut auf Fiktion, auf Lügen, auf Konstruktion. Warum werden Leute wie Chelsea Manning und Julian Assange verfolgt? – Weil sie uns gezeigt haben, wie der Staat uns belügt. Ein Beispiel: Wenn die französische Regierung sagt: Wir können keine Migranten aufnehmen, lügt sie. Warum sagt sie nicht die Wahrheit - dass sie keine Migranten aufnehmen will. Die Literatur muss ein Ort des Widerstands sein, ein Ort der Wahrheit.
Sie beschreiben in Ihrem zweiten Roman "Im Herzen der Gewalt", wie ein junger Maghrebiner Sie vergewaltigt. Das aufzuschreiben, diese Selbstentblößung - ist das nicht sehr schmerzhaft?
Natürlich ist es sehr hart, etwas zu beschreiben, was man am eigenen Leib erfahren hat. Aber weil es schwer ist, ist es auch interessant. Wenn ich anfange zu schreiben, stelle ich mir die Frage: Was ist unsagbar? Was kann ich eigentlich nicht aussprechen - und genau das muss man aussprechen. Der Rest ist nicht interessant.
"Im Herzen der Gewalt" ist die Geschichte einer dramatischen Nacht. Sie nehmen einen jungen Mann, den Sohn eines algerischen Einwanderers, mit nach Hause. Was als leidenschaftliche Liebesnacht beginnt, endet mit Gewalt, fast mit einem Mord...
Der Roman fragt, wie es zu diesem Umkippen kommt, von der Leidenschaft zur Zerstörung. Es war beeindruckend, wie sich plötzlich verschiedene Formen von Gewalt überlagerten: Rassismus, französischer Postkolonialismus, die Klassenunterschiede, Homophobie. Die Person im Buch, die mich auch in der Realität angegriffen hat, ist schwul, und gleichzeitig ist sie in Frankreich aufgewachsen, in einer sehr homophoben Gesellschaft. Diese Multiplikation von Gewalt versuche ich als Schriftsteller aufzuspüren, weil die Politik es nicht tut.
Gewalt, Rassismus, Schwulenfeindlichkeit, das sind auch Themen in Ihrem sehr erfolgreichen Debütroman "Das Ende von Eddy". Darin schildern Sie Ihre Flucht aus einem französischen Dorf, aus der Armut.
"Das Ende von Eddy" beschreibt ein Milieu, das in der Literatur bisher wenig Beachtung fand. Als ich das Manuskript zu den Pariser Verlagen schickte, bekam ich die Antwort: "Das werden wir nicht veröffentlichen, das ist unglaublich. Das wollen wir nicht glauben, dass es in Frankreich so eine Armut gibt." Die Arbeiterklasse ist vollkommen aus dem politischen, künstlerischen und literarischen Diskurs verschwunden.
"Das Ende von Eddy" hat nicht nur in Frankreich viel Aufmerksamkeit erregt, für Diskussionsstoff gesorgt. Weil es vor den letzten Präsidentschaftswahlen mit dem unheimlichen Aufstieg des Front National so etwas wie das Buch der Stunde wurde. Was war für Sie der Antrieb, dieses Buch zu schreiben?
Wenn man heutzutage "Frankreich" sagt, schließt das meine Eltern, die Arbeiterklasse nicht mit ein. Diese Unsichtbarkeit, dieses gewaltsame Ausschließen habe ich als sehr ungerecht empfunden, weil die Leute noch nicht einmal wissen, dass die Menschen, die ich in meinen Büchern beschreibe, existieren!
Und diese Menschen, die ich seit meiner Kindheit kenne, leiden unter dieser Unsichtbarkeit, und sie rächen sich. Sie wählen die Rechtsextremen, den Front National. Das ist ihre Art zu sagen: Ich existiere! Wenn ich schreibe, stelle ich mir die Frage: Wie kann ich diese Menschen sichtbar machen, ohne - wie der Front National - Gewalt zu erzeugen? Man sollte als Schriftsteller immer fragen: Welche Menschen tauchen in der Literatur nicht auf?
Der Front National mit Marine Le Pen hat glücklicherweise die Wahlen in Frankreich nicht gewonnen, sondern Emmanuel Macron, für viele ein neuer Hoffnungsträger, der Frankreich aus der Krise führen soll. Weshalb sehen Sie selbst seine Präsidentschaft kritisch?
Leider ist der Sieg von Emmanuel Macron langfristig ein Sieg für den Front National. Wenn man sich die Geschichte der rechtsextremen Parteien in Frankreich und in Deutschland, dem Front National und der AFD anschaut, dann sind das Parteien, die gegründet sind auf der sozialen Demütigung, dem Ausschließen und der Verletzung bestimmter sozialer Schichten. Und Emmanuel Macron verkörpert genau diese technokratische Bourgeoisie, extrem verächtlich, elitär. Leute wie er bringen die Menschen dazu, sich dem Front National, den Rechtsextremen anzuschließen. Das Auftauchen von Emmanuel Macron auf dem politischen Parkett ist die Geschichte vom Ende der Scham. Jedes Mal, wenn er spricht, beleidigt er die Armen. Er beleidigt die Leute, die ich in meinen Büchern beschreibe. Diese Schamgrenze ist auf einen Schlag gefallen. Ich schreibe, um Scham zu erzeugen, damit sich die Herrschenden schämen. Damit Leute wie Macron sich schämen.
Das Gespräch führte Ulrike Sommer.