Überleben in Trümmern
14. August 2014Shajaiyah in Gaza. Das Viertel liegt im Osten des Gazastreifens, nicht weit weg von der israelischen Grenze. Eigentlich liegt in Gaza alles nahe an der Grenze zu Israel. Denn der sandige Küstenstreifen, in dem 1,8 Millionen Menschen leben, erstreckt sich an seiner breitesten Stelle über zwölf Kilometer. Und hier im Norden ist er nur halb so breit. Der Verkehrsplaner von Google Earth berechnet für die Strecke vom Mittelmeer bis zur israelischen Grenze 18 Minuten mit dem Auto. Aber das ist eine Fiktion. Man kann diese Strecke nicht mit dem Auto zurücklegen, denn überall versperren riesige Trümmerberge den Weg.
Menschen steigen über die Ruinen, bahnen sich den Weg durch Schutt und Betonreste. Sie suchen nach Verwertbarem, nach Erinnerungen. Alles ist voller Staub, der in jede Falte der Kleidung eindringt und die Schuhe grau einfärbt. Es riecht nach Verwesung, unter den Trümmern liegen Leichen und Tierkadaver.
Gaza nach fünf Wochen Krieg. Das schmale, überbevölkerte und ressourcenarme Gebiet war zuvor schon ein Armenhaus, ein Elendsstreifen, in dem Menschen eingesperrt und isoliert leben. Jetzt sieht es an manchen Orten so aus, als hätte ein Erdbeben alles noch mehr verwüstet. Doch dies ist keine Naturkatastrophe. Die Zerstörung ist menschengemacht und planmäßig ins Werk gesetzt, davon ist Raji Sourani überzeugt: "Das ist unsere Beobachtung vom ersten Tag an. Wir haben festgestellt und geschlossen, dass dies gezielte und absichtliche Angriffe waren." Das Ziel seien Zivilisten gewesen.
Ein Krieg ohne Vorbild
Sourani ist Anwalt und Menschenrechtsaktivist, Gründer des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte und Träger des Alternativen Nobelpreises. An diesem heißen Sommerabend sitzt er in seinem kleinen Garten in Gaza-Stadt, über ihm brummen die israelischen Überwachungsdrohnen. Sourani ist überzeugt, dass Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen begangen hat: "Dieser Krieg ist einzigartig und ohne Vorbild. Er ist beispiellos, hässlich. Ich bin 60 Jahre alt. Ich habe niemals zuvor so etwas erlebt." Auch zur Jahreswende 2008 und 2009, während der dreiwöchigen Operation "Gegossenes Blei", habe Israel Kriegsverbrechen verübt, aber nicht in diesem Ausmaß. Dieses Mal hätten sie gezielt Wohnhäuser, Schulen und Kliniken angegriffen. Eine halbe Million Flüchtlinge gebe es jetzt, manche mussten Angehörige unter den Trümmern zurücklassen.
Ob absichtlich oder nicht, die israelischen Angriffe verbreiteten Angst und Schrecken. In Panik flohen die Menschen. Mehr als 280.000 Menschen fanden in den Schulen des UN-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge UNRWA Schutz. Andere kamen bei Verwandten und Bekannten unter oder lebten schlicht auf der Straße. Doch Sicherheit fanden sie nicht. Mehrere Familien wurden an ihrem Zufluchtsort Opfer der israelischen Angriffe wie die des Deutsch-Palästinensers Ibrahim Kilani, die in den Ruinen eines zerbombten und zusammengestürzten Wohnturms in Gaza-Stadt ums Leben kam. Zweimal war die Familie geflüchtet, von Beit Lahia im Norden nach Shajaiya im Osten und schließlich in die Stadt. Nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft dort kamen sie ums Leben.
Verletzte werden auf dem Fußboden operiert
Auch in den Krankenhäusern wurde der Platz knapp. Im Shifa-Krankenhaus mussten Ärzte die Verletzten auf dem Fußboden operieren. Patienten lagen in den Gängen auf Matratzen. Oft mussten sich mehrere Patienten ein Bett teilen. Doch ins Shifa-Krankenhaus kamen nicht nur Kranke und Verletzte, sondern auch Flüchtlinge, die im Hof des Gebäudekomplexes Schutz suchten. Dr. Ghassan Abu Sitta beschreibt die Situation: "Stellen Sie sich Ihr lokales Krankenhaus vor, das Platz hat für 250 Patienten und stellen Sie sich vor, dass 5000 bis 10.000 Leute innerhalb dieses Krankenhauses als Flüchtlinge in Zelten leben. Und stellen Sie sich dann vor, dass Sie versuchen müssen, 600 Patienten in diesem 250-Betten-Krankenhaus unterzubringen." Das medizinische Gerät sei zudem so abgenutzt, dass während der Operation Rost und Metallstückchen in die Wunden fallen.
Ghassan Abu Sitta ist Brite mit palästinensischen Wurzeln und lebt derzeit im Libanon. Er kam als Teil eines medizinischen Unterstützer-Teams in den Gazastreifen, um auszuhelfen. Sein Fachgebiet ist plastische Chirurgie und seine Expertise sind Kriegsverletzungen. Er hat in vielen Konfliktgebieten praktiziert. In Gaza war er zuletzt während der israelischen Operation "Gegossenes Blei". Damals hatte die Armee Phosphor eingesetzt und Abu Sitta behandelte Verwundete mit schweren Brandwunden. Diesmal hat er es mit anderen Verletzungen zu tun.
"Meistens haben wir Explosionsverletzungen, Schrapnell und Verbrennungen. Besonders schockierend ist der hohe Prozentsatz an Kindern, die verletzt werden. Sie machen einen großen Teil der Verletzten aus und viele haben den Rest ihrer Familie verloren." Insgesamt starben 448 Kinder während der Offensive. Vor allem viele Babys und Kleinkinder waren unter den Opfern. Auf den Fotos sehen sie oft äußerlich unverletzt aus, als ob sie schliefen. Aber sie wurden von den Druckwellen getötet, die durch die gewaltigen Explosionen ausgelöst wurden und die auf ihre empfindlicheren Körper viel stärker wirken, erklärt Abu Sitta. Er ist selbst Vater von drei Jungen. Darum, sagt er, kann er sich vom Leid der Kinder im Gazastreifen nicht distanzieren.
Alle zwei Tage für drei Stunden Elektrizität
Das größte Problem für Ärzte und Patienten aber ist der Stromausfall. Das Shifa und die anderen Krankenhäuser verfügen zwar über Generatoren, aber auch die fallen manchmal aus. Außerdem sind sie teuer und der Treibstoff ist knapp. Die Stromversorgung des Gazastreifens war schon vor der Offensive mangelhaft. Die Menschen hatten meistens nur wenige Stunden Strom am Tag. Inzwischen ist die Lage desolat. Es gibt praktisch keinen Strom mehr, erklärt Adel El Habash, Geschäftsführer bei der palästinensischen Stromgesellschaft: "Wir bekommen normalerweise Strom aus drei Quellen: aus unserem eigenen Kraftwerk, aus Israel und ein bisschen aus Ägypten." Israel habe das Kraftwerk attackiert, Boiler und Turbinen wurden zerstört, die Tanks hätten sie in Brand geschossen. Einige Monate, schätzt er, werde es dauern, bis das Kraftwerk wieder einsatzbereit sei. Von Israel wird nur wenig Strom geliefert, denn sechs der zehn Einspeisestellen sind während des Krieges beschädigt worden. "Im Moment haben wir alle 48 Stunden für drei Stunden Strom", sagt El Habash.
Dramatisch sind die Auswirkungen des Stromausfalls für die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung. Rebhy El Sheikh ist der stellvertretende Vorsitzende der Palästinensischen Wasserbehörde und zuständig für den Gazastreifen. In seinen Augen stehen Tränen, während er von den Schwierigkeiten berichtet, denen er und seine Mitarbeiter seit Beginn der israelischen Offensive ausgesetzt sind: "Bis jetzt sind sieben unserer Techniker getötet worden, während sie gerade dabei waren, Wasserleitungen zu reparieren oder andere Dienstleistungen zu erbringen."
Schon in normalen Zeiten ist die Trinkwasserversorgung im Gazastreifen äußerst prekär. Die einzige natürliche Ressource, über die das Gebiet verfügt, ist die unterirdische Wasserader. Doch die ist durch Überpumpung inzwischen versalzen und kontaminiert. Wasser-Experte Al Sheikh ist pessimistisch: "Die Wasserader von Gaza wird ab dem Jahr 2016 nicht mehr nutzbar sein. Wenn es ohne Intervention bis 2020 so weitergeht, dann wird die Wasserader irreparabel beschädigt werden."
Nach einem Bericht der Vereinten Nationen wird der Gazastreifen spätestens ab 2020 nicht mehr bewohnbar sein. Für viele Menschen, die den Krieg der letzten Wochen überlebt haben, ist das schon heute der Fall.