10 Thesen zum deutschen Nachkriegskino
13. August 2016"Geliebt und verdrängt - Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963" heißt die große filmhistorische Retrospektive, die in den vergangenen Tagen in Locarno beim Filmfest (3.-13.8.) zu sehen war. Gemeinsam mit dem Deutschen Filminstitut Frankfurt haben die Kuratoren in Locarno ein umfangreiches Programm zusammengestellt, das im Anschluss an das Festival in weiteren Kinos im In- und Ausland zu sehen ist, sogar in den USA. Die Filmschau erreicht somit ein riesiges internationales Publikum.
Neuer Blick auf alte Filme
Mit der Retrospektive wagen die Festivalmacher und Filmwissenschaftler eine Neuinterpretation der Sicht aufs bundesdeutsche Nachkriegskino. Bisher galt die Meinung: Von 1945 bis zum "Oberhausener Manifest" von 1962, mit dem 26 Filmschaffende eine Abkehr vom biederen Kommerz-Kino alter Schule forderten und das sogenannte "Autorenkino" aus der Taufe hoben, dominierten Heimatfilme und die Nazi-Zeit verdrängende Kriegs-Epen. Ablenkung vom tristen Nachkriegsalltag war die Devise, später wurde Erbauliches zum Wirtschaftswunderland Deutschland geboten.
1. Der Blick auf eine vergessene Filmepoche lohnt unbedingt
"Das deutsche Kino aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist nach Jahren, in denen es vorschnell abgeurteilt und für nichtig erklärt wurde, weiter ein offenes Forschungsfeld." (Carlo Chatrian, Festivalleiter Locarno). Dem ist ohne Abstriche zuzustimmen. Es gibt viel zu entdecken. Viele Filme der Zeit bis 1963 sagen etwas über die junge Bundesrepublik aus. Sie sind ein Spiegel der Zeit. Manche Filme sind auch künstlerisch bemerkenswert. Der neue Blick auf die alten Filme kann zudem im Umgang mit dem aktuellen Filmschaffen in Deutschland neue Perspektiven eröffnen.
2. Plädoyer für eine Vielfalt der Genres
"Das Ende des populären Nachkriegskinos fiel in Westdeutschland mit dem der Adenauer-Ära zusammen…" (Claudia Dillmann). Populäres Kino heißt oft Genrekino. Gerade das wurde in den 1960er und '70er Jahren geschmäht und an die Seite oder zum Fernsehen gedrängt. Noch heute fehlen diese Genrefilme im deutschen Kino. Regisseure mit Genreambitionen wie Wolfgang Petersen und Roland Emmerich "mussten" nach Hollywood gehen. Deutsche Fördergremien sollten heute mehr Mut zu Genrestoffen zeigen.
3. Warum nicht wieder Genrekrimis auf großer Leinwand?
"Der Krimi scheint der Deutschen liebstes Genre zu sein." (Peter Ellenbruch). Gerade in den Jahren bis 1963 wurden in Deutschland viele kleine, "schmutzige" Kriminalfilme gedreht. Die jungen Filmemacher der nachfolgenden Generationen hatte damit nicht mehr viel im Sinn. Das Genre wurde nur noch im Fernsehen gepflegt. Bis heute: Die ungeheure Popularität der Reihe "Tatort" ist Beleg dafür. Warum nicht also wieder mehr gut gemachte Krimis auf großer Kino-Leinwand ?
4. Die Nazizeit wurde damals nicht nur verdrängt
"Dem radikalen Bruch zwischen den Generationen hat die deutsche Filmgeschichtsschreibung ein nobleres Motiv attestiert: die Vergangenheitsbewältigung." (Rainer Knepperges). Locarno zeigt aber auch: In den Jahren bis 1963 beschäftigten sehr wohl viele Filmemacher mit der Nazi-Zeit, oft allerdings über Umwege und mithilfe von Metaphern. Dem aktuellen deutschen Kino (und Fernsehen) kann man zwar nicht vorwerfen, dass es sich nicht mit der Nazi-Zeit beschäftigt, doch bleibt die Frage: Waren Filme wie "Der Untergang" und die vielen TV-Event-History-Movies aus der jüngsten Zeit nicht eher revisionistisch als aufklärerisch?
5. Filmhandwerk nach dem Zweiten Weltkrieg: Professionell und von internationalem Standard
"Die Behauptung, dass die Filme der Nachkriegszeit filmtechnisch miserabel waren, gehört zu den großen Missverständnissen der Filmgeschichtsschreibung." (Rudolf Worschech). Im bundesdeutschen Nachkriegsfilm arbeiteten noch viele Profis mit langer Erfahrung. Das sieht man selbst schlechten Heimat- oder Genrefilmen der Zeit an. Der "Neue Deutsche Film" der '60er und '70er Jahre hielt diese Professionalität nicht immer aufrecht. Heute sorgen die vielen Filmschulen wieder für ein sehr hohes Niveau bei den Film-Handwerken.
6. Kein Fortschritt: Fernsehanstalten statt Filmproduktionsfirmen
"…ebenso wenig wie heute stellte die bundesdeutsche Filmproduktion eine 'Industrie' dar, vergleichbar mit derjenigen Hollywoods oder des untergegangenen Ufa-Konzerns." (Claudia Dillmann). Waren es in den Jahren nach dem Krieg viele kleine und mittelgroße Produktionsfirmen, die den deutschen Nachkriegsfilm aus der Taufe hoben, ist heute das öffentlich-rechtliche Fernsehen als mächtiger Filmproduzent dazugekommen. Ohne TV-Sender wird heute kaum ein Kinofilm gedreht. Das wird oft kritisiert. Zu Recht. Zu viele Gremien, zu viele Redakteure, zu viele "Entscheider" verwässern derzeit die deutsche Kinoproduktion.
7. Stars - damals und heute: Eine Streitfrage
"Mit dem Autorenkino erfolgte der Bruch fast sämtlicher Schauspielertraditionen."(Dominik Graf). Das deutsche Nachkriegskino brachte zahlreiche Schauspieler hervor, die sich auch zu internationalen Stars entwickelten. Der Regisseur Dominik Graf verweist darauf, dass der "Neue Deutsche Film" eines Rainer Werner Fassbinder bei den Darstellern zu einer "Verarmung der Mittel" geführt habe. Darüber lässt sich streiten. Das aktuelle deutsche Kino hat ja durchaus seine Stars, die das Publikum millionenfach anziehen: Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer zum Beispiel. Ob das aber die Zukunft des deutschen Films und seiner Stars ist?
8. Deutsche Film international - auch heute gut vernetzt
"Das Kino war (…) bei weitem nicht so provinziell, wie man im Nachhinein oft behauptet…" (Olaf Möller). Die Retrospektive in Locarno zeigt, wie international verflochten das damalige deutsche Kino war. Es entstanden viele Co-Produktionen. Deutsche Regisseure wurden regelmäßig nach Cannes eingeladen. Ausländische Produktionsfirmen nutzten die BRD als Schauplatz für ihre Filme. In Zeiten der Globalisierung ist das deutsche Kino auch heute wieder stark vernetzt. Insofern knüpft es an Entwicklungen aus den 1950er Jahren an.
9. Das Manifest von Oberhausen: trotz aktueller Kritik ein Meilenstein
"Es gehört zu den Gründungsmythen des sogenannten 'Oberhausener Manifests', (…) man habe erstmals die Forderung nach einer ästhetischen Erneuerung des deutschen Nachkriegsfilms erhoben." (Lars Henrik Gass). Es hat auch schon vor 1963 derartige Aufrufe gegeben. Doch erst Oberhausen hat für den entscheidenden Ruck innerhalb des deutschen Films gesorgt. Jetzt muss sich der künstlerische Aufbruch von 1963 - nicht zuletzt durch die Neubewertung in Locarno - heftiger Kritik erwehren. Doch die Frage bleibt: Was wäre ohne das Manifest passiert? Brauchte es damals nicht gerade einen solchen drastischen Weckruf?
10. Plädoyer für einen nüchternen Blick
Die große Retrospektive in Locarno ist mehr als eine sorgfältig zusammengestellte Filmschau zum deutschen Nachkriegskino. Sie ist der Versuch, den bisherigen Blick auf den deutschen Film der letzten Jahrzehnte auf den Kopf zu stellen. Das dürfte noch für Diskussionen sorgen. Doch bei allem Respekt für die Leistung der Kuratoren. Die Kritik am "Oberhausener Manifest" und ihren Machern erscheint oft überzogen. Man sollte die Leistungen der Regisseure der 1950er Jahre würdigen und gleichzeitig anerkennen, was "die Oberhausener" geleistet haben. Schließlich betraten erst in den Jahren nach Oberhausen Filmemacher wie Fassbinder, Kluge, Herzog, Reitz, Wenders und Schlöndorff die Bühne.
Die Zitate entstammen dem Buch, dass zur Retrospektive in Locarno erschienen ist: "Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963", von Claudia Dillmann und Olaf Möller (Hg.), 416 Seiten, Verlag des Deutschen Filminstituts, ISBN-13: 978-3887990893.