Retrospektive der 66. Berlinale
9. Februar 2016Im Westen begann der filmische Aufbruch - im Osten nahm die Zensur das Zepter in die Hand. So könnte man kurz und bündig das zusammenfassen, was sich vor genau 50 Jahren im deutschen Film abspielte. Um das - aus filmhistorischer Sicht - spannende Jahr 1966 dreht sich die große Retrospektive der 66. Berlinale. (11.2.-21.2.)
Ein Blick zurück auf die Situation der Regisseure in Ost und West - da hat sich die Stiftung Deutsche Kinemathek, die die filmhistorische Schau der Filmfestspiele alljährlich organisiert, viel vorgenommen. Zwei auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Entwicklungen des deutschen Kinos werden vorgestellt.
"1966 ist ein entscheidendes Jahr in der Filmgeschichte für die Bundesrepublik, aber auch für die DDR - aus ganz unterschiedlichen Gründen", erzählt Rainer Rother, künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Es ist das Jahr, in dem der junge deutsche Film seine allerersten Erfolge feierte, auf nationaler wie auch auf internationaler Bühne." Rother erinnert in diesem Zusammenhang besonders an den Silbernen Löwen in Venedig für Alexander Kluges "Abschied von gestern".
Im Westen: Startschuss mit dem "Oberhausener Manifest"
Vier Jahre zuvor hatten rund zwei Dutzend junge Filmenthusiasten das sogenannte "Oberhausener Manifest" verabschiedet - ein Traktat, mit dem der althergebrachte, ästhetisch und inhaltlich behäbige bundesdeutsche Nachkriegsfilm aufs Altenteil verabschiedet werden sollte. Die jungen Regisseure (neben Kluge waren u.a. Edgar Reitz und Peter Schamoni dabei) wollten neue Geschichten erzählen, realistischer und näher an den Menschen dran. Sie wollten diese Geschichten aber auch anders erzählen, formal anspruchsvoller, experimentierfreudiger, überraschender.
Damit passten sie sich auch europäischen Kino-Trends an: "Einflüsse sind natürlich von der Nouvelle Vague aufgenommen worden, aber genauso auch von den Erneuerungsbewegungen des Films in Polen und der Tschechoslowakei", so Rother. Der Alltag der Menschen sei in den Fokus gestellt worden, man habe "on location" gedreht. "Zum ersten Mal sind die Filmemacher ganz bewusst auf die Straße gegangen, man sieht auch die Schattenseiten des Wirtschaftswunders", sagt Rother. Es sei in Reedereien gedreht worden, in Steinbrüchen, man habe über die Mauer im Osten geschaut, ebenso wie "auf die Brachen in West-Berlin".
War das bundesdeutsche Publikum jahrelang mit der heilen Welt des Heimatfilms und später mit Winnetou- und Edgar Wallace-Filmen unterhalten und abgelenkt worden, übernahmen Mitte der 1960er Jahre die "Oberhausener" das Ruder. 1966 war das Jahr, das die ersten Früchte dieses filmischen Aufbruchs brachte.
Im Osten ein Aufbruch mit abruptem Ende
Und im Osten? Auch dort machten sich die Regisseure in der ersten Hälfte der '60er Jahren Gedanken um innovative Kino-Formen und einen realistischeren Blick auf die Gesellschaft.
Doch dann kam der Schock. Auf dem heute berühmt-berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED setzten sich die Dogmatiker auf ganzer Linie gegen die Reformer durch. "Man hat festgestellt, dass sehr viele, vor allem die Gegenwartsfilme, Tendenzen einer kritischen Betrachtung der Gegenwart zeigten", lautete ihr Urteil über den DDR-Film. Und so wurden 1966 insgesamt 12 Filme in der DDR verboten, das waren 75 Prozent der Jahresproduktion der Deutschen Film AG, kurz "DEFA", einem volkseigenen Filmunternehmen. Das Kino der DDR stand vor einem Scherbenhaufen. Viele Regisseure durften nicht weiterarbeiten, zwei mussten das DEFA-Studio verlassen. Manche fanden Unterschlupf beim Theater, andere beim Fernsehen. Für ein paar der geschassten Regisseure bedeutete das Jahr 1966 das Ende der künstlerischen Karriere.
Parallelen zwischen dem DDR- und dem BRD-Kino
Für Rainer Rother ist das Jahr '66 auch deshalb so interessant, weil es nicht nur die Unterschiede deutlich macht, sondern auch die Parallelen: "Die Filme erzählen sehr viel von einem Generationenkonflikt." Es waren Filme, die von Aufbrüchen handelten, die eine Vorahnung der wenig später beginnenden Studentenrevolte gaben, die das Jahr 1968 vorwegnahmen. In der DDR habe es diesen Generationskonflikt ja offiziell gar nicht geben dürfen, sagt Rother. Nach dem Motto: "Das Erbe der großen Kämpfer wird von der jungen Generation angenommen und damit gelöst." Dass die junge Generation aber ganz andere Vorstellungen hatte als die "alten Kämpfer", gefiel den SED-Oberen nicht.
BRD-Kino: Aufbruch zu neuen Ufern
"In der Bundesrepublik waren es eigentlich keine Rebellen, sondern eher Suchende, 'Drifter', wie wir sie nennen", weist Rainer Rother auf wesensverwandte Filmcharaktere im Westen hin und nennt "Jimmy Orpheus" von Roland Klick oder "Der sanfte Lauf" des gerade verstorbenen Regisseurs Haro Senft als Beispiel. "Das waren Figuren, die nicht ganz genau wissen, wie sie sich in diese Wirtschaftswunderzeit einpassen sollen, die manchmal zum Kompromiss neigen, sich manchmal nur treiben lassen, denen man aber anmerkt, dass es eine untergründige Unzufriedenheit gibt."
Noch eine andere Besonderheit im BRD-Film spricht Rother an: Frauen seien im bundesdeutschen Film viel offensiver vorgegangen als Männer, hätten viel klarere Forderungen gestellt: "Es ist vielleicht das erste Mal in der bundesrepublikanischen Filmgeschichte, dass solche Frauen im Kino auftauchen."
So vereint die historische Filmschau der Berlinale 2016 viele Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten im DDR- und BRD-Film jener Jahre: "Dies als Zusammenschau zu ermöglichen, das ist das Anliegen der Retrospektive, weil man das normalerweise ja nicht zusammenbringt", resümiert Rother.
Das Begleitbuch zur Retrospektive ist im Bertz + Fischer-Verlag erschienen, ISBN 978-3-86505-245-2