100. Giro d’Italia: Der Tod fährt mit
4. Mai 2017Der Giro d'Italia 2017 wird einen besonderen Platz in den Annalen haben. Das liegt nicht nur daran, dass die Rundfahrt zum 100. Mal ausgetragen wird. Im Peloton ist auch die Erinnerung an den Tod besonders präsent. Gleich zwei Startnummern werden in diesem Jahr nicht vergeben: die 108 und die 21. Die Nummer 21 war Michele Scarponi vorbehalten. Der designierte Astana-Kapitän kam vor knapp zwei Wochen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. "Aus Respekt vor Michele lassen wir die Nummer frei und besetzen den Startplatz auch nicht nach. Michele wird beim Giro immer bei uns sein", sagte der Teamchef von Scarponis Rennstall Astana, Alexander Winokurow.
Die 108 wird schon seit 2012 nicht mehr vergeben. Beim Giro 2011 kam auf einer Abfahrt der Belgier Wouter Weylandt ums Leben. Der Fahrer mit der Nummer 108 starb noch am Unfallort. "Das einzige Gute, was sich sagen lässt, ist, dass er nicht gelitten hat. Er war sofort tot", sagte später Rennarzt Giovanni Tredici. Weylandt hatte in den Tagen vor dem Unfall offenbar schon ein schlechtes Gefühl beim Giro. Er beklagte sich gegenüber seinem Manager, dass sehr nervös gefahren werde und das Sturzrisiko hoch sei. "Das bereitet mir Sorgen", sagte Weylandt damals.
Die Klage über nervöse Fahrweise und erhöhte Unfallrisiken kursiert sein einigen Jahren in den Pelotons der großen Rundfahrten. Ältere Profis machen zum Teil den mangelnden Respekt der Jungen dafür verantwortlich. Es wird generell später gebremst, Kurven werden nicht immer richtig eingeschätzt.
Immer extremer
Hinzu kommt, gerade beim Giro, der Drang der Organisatoren zu immer größeren Schwierigkeiten, immer spektakuläreren Kursen. Vulkane wie Vesuv und Ätna wurden hoch gefahren. Auch bei der Jubiläumsausgabe ist der Ätna im Programm. Gleich 21 Anstiege mit über 10 Prozent Steigung müssen erklommen werden. Hervor stechen die "Mauer von Ca' del Poggio" auf der vorletzten Etappe mit 18 Prozent Steigung. der Mortirolo mit 16 Prozent (16. Etappe) und der Panidersattel mit 15 Prozent. Als den "härtesten Giro, an den ich denken kann", bezeichnete Fabio Aru diese Jubiläumsausgabe. Der Sarde, eigentlich ein Siegkandidat dieser Rundfahrt, die auch noch auf seiner heimatlichen Insel beginnt, musste passen: Nach einer Sturzverletzung hatte er zu viel Trainingsrückstand. Nicht einmal ein emotionaler Brief seines früheren Mentors Vincenzo Nibali, des Giro-Siegers von 2016, konnte ihn zur Teilnahme bewegen.
Weil der einheimische Star fehlt – der Kurs wirkt, als sei er als Triumph-Fahrt des Vuelta-Siegers von 2015, Aru, designt - dachten sich die Rennorganisatoren andere Attraktionen aus. Oder das, was sie dafür hielten. Erstmals im Profiradsport sollte es nämlich eine Wertung für den besten Abfahrer geben, mit Tagesprämien von 500 Euro und einer Siegprämie in der Gesamtwertung von 5000 Euro. Ein Aufschrei des Pelotons bewog den Giro-Veranstalter RCS aber dazu, den Plan wieder zurückzuziehen. Profis erinnerten zu Recht an den Sturz Weylandts. Eine wilde Jagd den Berg hinunter ohne Sicherungsmaßnahmen wie etwa bei Skirennen, aber mit Athleten, die durch die Ausdauerbelastung schon erschöpft sind, stellt tatsächlich ein Spiel mit Leben und Gesundheit dar.
Der Kampf um mehr Aufmerksamkeit
Dieser Versuch der Giro-Planer reiht sich ein in ihren verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeitslücke zur Tour de France zu schließen. Seit 2004, als der frühere Journalist Angelo Zomegnan Giro-Direktor wurde, gab es zahlreiche Neuerungen. Zomegnan führte etwa ein Nacht-Rennen ein - zum Giro-Auftakt 2005 - und entdeckte Lehmpisten für den Giro. Er übertrieb aber auch - und musste den Preis dafür zahlen. Beim Giro 2011, der Ausgabe der Rundfahrt, bei der auch Weylandt starb, protestierten die Teams gegen die Abfahrt vom Monte Crostis im Friaul: Zu schmal die Straße, zu eng die Kurven, nicht einmal die Mannschaftswagen wären hier durchgekommen. Der Giro-Direktor gab dem Protest nach und verkürzte die Route. Er legte sie gleich so, dass das Dörfchen Tualis ausgelassen wurde. Deren Bewohner nämlich waren so erbost über die Entscheidung, dass der Giro ihren "Hausberg" boykottierte, dass sie vorhatten, das Peloton zu stoppen. Zu spät bekamen sie die größere Streckenänderung mit. Trauriges Überbleibsel der verpassten - und wohl auch zu ambitionierten - Giro-Durchfahrt sind der Name des Hauptplatzes und ein Kunstwerk darauf. Der Platz heißt "Platz des Giro d'Italia", die Skulptur stellt ein Rennrad dar.
Favorit Quintana
Zomegnans damaliger Streckenplaner Mauro Vegni ist mittlerweile selbst Giro-Chef. Er hatte jetzt die Idee mit den Abfahrtsprämien. Auch er hat schon ein Organisationsdebakel zu verantworten. 2014 wollte er trotz Schneetreiben die Abfahrt vom Stilfser Joch nicht absagen. Er verpflichtete die Fahrer, die Abfahrt hinter einer Art Safety-Bike, einem langsam fahrenden Motorrad, zu absolvieren. Der spätere Gesamtsieger Nairo Quintana aus Kolumbien gab vor, im Schneetreiben kein Safety-Bike gesehen zu haben, und jagte die Abfahrt mit Vorsprung herunter. Eine direkte Unsportlichkeit war es nicht. Die Handlungsweise sorgte aber für Kontroversen im Feld. Grund war die unklare Kommunikation.
Das Stilfser Joch ist auch in diesem Jahr Teil des Programms. Und Quintana bricht zu einem noch ehrgeizigeren Vorhaben auf: Der Kolumbianer geht das Double aus Giro und Tour an. Zumindest der Giro-Sieg scheint machbar. Bleibt nur zu hoffen, dass seine Risikoabwägung und die der Organisatoren beim 100. Giro d'Italia ausbalanciert sind. Die Rundfahrt endet am 28. Mai in Mailand.