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Rückblick auf ein Jahr voller Integrationsdebatten

26. Dezember 2010

Von "Team Multikulti" bis Sarrazin, Wulff und Seehofer: Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund war in diesem Jahr zeitweise das alles beherrschende Thema in den deutschen Medien.

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ARCHIV: Ein Schüler schreibt das Wort "Integration" auf eine Schultafel (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2010: Im Vordergrund stand zwar das "runde Leder", für Deutschland neu war aber, dass dabei immer auch das Thema Integration mitklang. Berliner Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund sahen sich zum Beispiel im Juni gemeinsam ein Spiel der deutschen Mannschaft auf einer Großleinwand bei der Konrad-Adenauer-Stiftung an.

Der Nationalspieler Mesut Özil jubelt mit seinen Teamkollegen Lukas Podolski, Sami Khedira, Philipp Lahm und Thomas Müller vor einer Deutschlandflagge
Mesut Özil, Sami Khedira und Lukas Podolski begeisterten die FansBild: dapd

Fußball fördert Integration

Die Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer war mit dabei und berichtete den Jugendlichen, wie beeindruckt sie davon sei, dass elf der 23 deutschen Nationalspieler im Kader von Bundestrainer Joachim Löw einen Migrationshintergund haben: Entweder wurden sie selbst im Ausland geboren oder ihre Eltern sind nach Deutschland zugewandert. Böhmer sagte: "Deshalb fand ich es so wichtig, als Mesut Özil gesagt hat, er spielt für die deutsche Nationalmannschaft. Das war eine ganz wichtige Entscheidung. Und ich finde, dass viele, die hier groß geworden sind, sich ebenso entscheiden sollten."

Provokateur meldet sich zurück

Nur wenige Wochen später bekam das Thema Integration einen ganz anderen Unterton. Ende August entfachte Thilo Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" eine Debatte über angeblich integrationsunwillige muslimische Migranten und die kulturelle Grundlage der deutschen Identität. Der Bundesbankvorstand und ehemalige Berliner Finanzsenator (SPD) war schon vor dieser Buchveröffentlichung bekannt für oftmals rüde und polemische Äußerungen gegenüber Arbeitslosen und Migranten. Sarrazin forderte höhere Hürden für die Zuwanderung und strenge Anforderungen an in Deutschland lebende Menschen mit ausländischen Wurzeln.

Die neuen Äußerungen über eine angeblich fehlende Intelligenz bei türkischen und arabischen Einwanderern und seine These, "alle Juden" hätten "ein bestimmtes Gen", sorgten für viel Aufsehen und Empörung. Die Bundesbank beantragte daraufhin seine Abberufung, Sarrazin verzichtete schließlich selbst auf das Vorstandsamt. Die SPD leitete ein Partei-Ausschlussverfahren gegen ihn ein.

Umstrittene Thesen lösen Widerstand aus

Thilo Sarrazin, von einem Kameramann gefilmt vor einem Plakat mit dem Titel seines Buchs "Deutschland schafft sich ab"
Thilo Sarrazins Buch löste heftigen Streit ausBild: AP

Sarrazin sprach in seinem Buch davon, dass die Zuwanderung in Deutschland sich während der letzten Jahrzehnte mehr und mehr auf bildungsferne Gruppen aus den muslimischen Ländern konzentriert habe. Zwischen den in Deutschland lebenden Migranten, die aus den verschiedensten Ländern kommen, gibt es nach Sarrazins Ansicht große Unterschiede vor allem im Bildungsbereich: "Bei Einwanderern aus Osteuropa, aus Indien, aus China oder Vietnam gibt es kein Integrationsproblem, das länger als eine Generation dauert." Nach Sarrazins These haben diese Migranten durchweg eine höhere Bildungsbeteiligung und eine bessere Arbeitsmarktintegration als die Deutschen. Diese Zuwanderergruppe sei daher "eine wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Bereicherung für Deutschland", zeigte sich Sarrazin überzeugt. Das gelte jedoch nicht für die vier bis sechs Millionen muslimischen Einwanderer in Deutschland.

Sarrazins negative Pauschal-Urteile über muslimische Einwanderer stießen auf vielfachen Widerspruch, beispielsweise bei der niedersächsischen Integrationsministerin Aygül Özkan (CDU), die selbst einen türkischen Migrationshintergrund hat. Sie fand es zwar wichtig, die Probleme von Migranten zu analysieren. Aber es sei nicht akzeptabel, es in "einer solchen verächtlichen Art zu tun, dass man Gruppen herausnimmt - Türken, Araber usw. - und sie in eine Ecke zu stellen und nicht anzuerkennen, was diese Menschen sowohl in der ersten Generation geleistet haben, aber auch tagtäglich heute leisten."

Sprachkenntnisse sind entscheidend für den Beruf

Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer betonte, wie wichtig es sei, die deutsche Sprache zu beherrschen. Wer erfolgreich sein wolle wie der türkischstämmige Fußballer Mesut Özil oder sein Teamkollege Sami Khedira, Sohn einer Deutschen und eines Tunesiers, müsse auch die Sprache des Landes sprechen, in dem er lebe, sagte Böhmer. Nur dann hätten Migranten alle beruflichen Chancen, die Deutschland ihnen biete. "Wenn man die deutsche Sprache nicht spricht, dann ist man nur Zaungast in diesem Land", sagte Böhmer.

ARCHIV: Schüler mit Migrantionshintergrund nehmen in einer Schulklasse am Deutschunterricht teil (dpa)
Deutsch lernen: Das Erfolgsrezept für IntegrationBild: picture-alliance/dpa

Schließlich gelang es Bundespräsident Christian Wulff, nach kaum mehr als 100 Tagen im Amt, der ausufernden Integrationsdebatte eine neue Richtung zu geben. Schon bei Amtsantritt hatte er versprochen, das Thema Integration in den Mittelpunkt seiner Arbeit zu stellen. Bei seiner ersten großen Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober sagte er dann: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland, das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland."

Mit dieser Aussage wollte der Bundespräsident eigentlich den Streit über die Integration von Muslimen in Deutschland beenden. Doch seine Rede sorgte nun bei den Konservativen für Irritationen.

"Der Islam gehört zu Deutschland"

Und so ging die Integrationsdebatte in eine neue Runde. Der bayerische Regierungschef Horst Seehofer positionierte sich auf dem CSU-Parteitag Ende Oktober: "Multikulti ist tot...Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein."

Der Chef der bayerischen CSU bekräftigte seine Forderung nach einem Zuzugsstopp für Migranten aus anderen Kulturkreisen. Absoluten Vorrang vor der Zuwanderung soll laut Seehofer die Qualifizierung einheimischer Arbeitsloser haben.

Kein Ende der Integrationsdebatte

Bundespräsident Christian Wulff am Rednerpult im Plenarsaal des türkischen Parlaments in Ankara (dpa)
Werben für Toleranz: Bundespräsident Wulff im türkischen ParlamentBild: picture alliance/dpa

Bundespräsident Christian Wulff hingegen sprach sich bei seinem Türkei-Besuch im Oktober gegen einen Zuzugsstopp für Zuwanderer aus der Türkei aus. Auch sein Werben für gegenseitige Toleranz kam in der Türkei gut an. Und dem Bundespräsidenten gelang es auch, manche seiner Kritiker in Deutschland mit seiner Rede im türkischen Parlament zu besänftigen, deren Kernsatz lautete: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei". Muslime könnten in Deutschland ihren Glauben in würdigem Rahmen praktizieren, sagte Wulff, davon zeuge die zunehmende Zahl der Moscheen. Gleichzeitig erwarte die deutsche Seite, "dass Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht haben, ihren Glauben öffentlich zu leben, theologischen Nachwuchs auszubilden und Kirchen zu bauen."

Auch wenn die Integrationsdebatte gegen Ende des Jahres wieder anderen Themen wich: Innenminister Thomas de Maizière betonte, die Debatte in Deutschland dürfe nicht abklingen. In Anspielung auf Sarrazins Bestseller forderte er, man müsse "unabhängig von Wahlterminen oder Auflagen von irgendwelchen Büchern" weiter über das Thema diskutieren. Gleichzeitig warnte de Maizière sowohl vor Schönfärberei als auch vor Schwarzmalerei. Integration, so der Minister, brauche "Realismus, Wahrheit, Fördern und Fordern, Geduld und einen langen Atem".

Autorin: Sabine Ripperger
Redaktion: Klaus Dahmann/Andrea Grunau