Krass oder cringe? Entwicklung der Jugendsprache
15. Mai 2021Wenn Erwachsene sich mit Jugendsprache beschäftigen, ist das aus Sicht ihrer Zöglinge ziemlich peinlich - oder "cringe", wie sie es heutzutage wohl selbst nennen würden. "Aber für meine pubertierenden Kinder bin ich so oder so peinlich, egal, was ich mache", bekennt Matthias Heine augenzwinkernd im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Der Kulturjournalist hat in seinem Buch "Krass. 500 Jahre deutsche Jugendsprache" den Wortschatz der letzten Jahrhunderte durchforstet, denn die ist kein Phänomen der Neuzeit.
Schon immer hat die Jugend als Erkennungszeichen untereinander und als Abgrenzung gegen die Welt der Erwachsenen eine eigene Sprache entwickelt. Im 17. Jahrhundert pflegten die Studenten ihren speziellen Jargon, und im Zeitalter des Internets und der Influencer ist das nicht anders. Dieser Code des Nachwuchses wird allgemein eher misstrauisch beäugt, wie Heine im Vorwort seines Duden-Bandes schreibt: "Jugendsprache wird von den meisten Menschen als eine moderne Verfallserscheinung empfunden, die bestenfalls nervt, schlimmstenfalls aber zur Zerstörung des Deutschen beiträgt."
"Krass" seit 300 Jahren
Ganz so weit ist es mit der Zerstörung der Sprache aber gar nicht her, stellt der Autor fest. Denn er hat entdeckt, dass so manches Wort aus der Jugendsprache eine viel längere Halbwertzeit hat als allgemein angenommen. Nicht nur, weil seine Töchter im Grundschulalter Dinge sagen wie "Ich hab keinen Bock" oder "geil" - was Heine selbst in seiner Jugend in den 1970er-Jahren schon regelmäßig über die Lippen kam. Nein, auch den Ausdruck "krass" hört man zum Beispiel noch heute auf dem Schulhof, im Sinne von cool oder - vollkommen aus der Mode - "dufte". "Krass" hat eine lange Karriere hinter sich, denn schon im 18. Jahrhundert kursierte es unter Studenten. Abgeleitet vom lateinischen "crassus" (dick, derb, plump) hatte es damals aber die gegenteilige Bedeutung: Es bezog sich auf uncoole Erstsemester, die noch unerfahren und naiv waren. Der Ausdruck "dufte" hingegen klingt heute komplett veraltet, aber immerhin hielt er sich über 100 Jahre bis in die 1960er-Jahre im gängigen Vokabular.
"Man hört eben mit 18 nicht auf, Jugendsprache zu sprechen", stellt Matthias Heine fest. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass Begriffe, die einst von Studenten und Schülern geprägt wurden, in die Alltagssprache eingingen. Selbst deutsche Nationaldichter wie Goethe oder Schiller benutzten im reifen Alter in ihren Werken Ausdrücke, die sie einst in der Jugend gelernt hatten.
Von Studenten und Wandervögeln
Matthias Heines Streifzug durch die deutsche Jugendsprache beginnt im 16. Jahrhundert, denn erst seit dieser Zeit sind schriftliche Quellen überliefert. Damals galt die studentische Lebensart in den Universitätsstädten Halle, Jena und Gießen als Vorbild für die Jugend - und ganz nebenbei erfährt man in Heines Buch, dass die Studenten damals nicht gerade das beste Benehmen an den Tag legten. Sie besoffen sich jede Nacht und prellten dann beim Wirt die Zeche, drangsalierten die "Philister" (heute würde man sagen: Spießbürger), schlugen sich mit der Polizei und duellierten sich gegenseitig wegen jeder Kleinigkeit mit dem Degen. Und sie prägten viele Begriffe, die heute im Duden stehen: Skandal, mogeln, Schmöker, abgebrannt oder verdonnern – die Liste ließe sich beliebig erweitern. Auch Präfixe haben sie eingebracht - wie "saukalt", "bierernst", "Sauklaue" - und nicht zuletzt Redewendungen wie "Das ist mir Wurst" oder "unter aller Kanone".
Seit 1900 schimpften sie dann gemeinschaftlich auf die "Bullen", die Polizei. Studierende des 20. Jahrhunderts brachten dann die Abkürzung mit "i" in Umlauf: Abitur schrumpfte zu Abi, Universität zu Uni, Studierender zu Studi und Chauvinist zu Chauvi. Nicht zuletzt wurde auch das geringschätzige Wort "Tussi" für eine oberflächliche, auffällig gestylte Frau modern. Doch die Wurzeln dieser Dame gehen viel weiter zurück als in die 1970er-Jahre: Heinrich von Kleists Werk "Hermannsschlacht", in dem der Autor 1808 den Sieg der Germanen über die Römer im Teutoburger Wald beschreibt, war bei ganzen Schülergenerationen Pflichtlektüre. Thusnelda hieß die Gattin Hermanns - bevor sie despektierlich zur "Tussi" degradiert wurde.
Ebenfalls stark geprägt wurde das Deutsche von der Wandervogelbewegung. Die wandernde Jugend grüßte sich mit der germanischen Formel "Heil", heute noch bei "Petri heil" oder "Ski heil" üblich. Bei den Nazis bekam das Wort dann einen unheilvollen Klang - ebenso wie das Wort "Führer", das bei den Wandervögeln noch naturverbundenen Anführern vorbehalten war.
Wenn der Fuzzi auf den Babo trifft
Auch Musiker und Hippies haben die Sprache der Jugend immer wieder maßgeblich beeinflusst und Anglizismen mit sich gebracht. Man rauchte einen Joint, war stoned und groovte zu hippem Funk. Der Deutschrocker Udo Lindenberg hat es sogar geschafft, einige seiner ganz persönlichen Wortschöpfungen in der Sprache zu verewigen. Dazu gehören "Fuzzi" (man denke an den Schlager-, Werbe- oder Ökofuzzi) - oder "Controlleti", jemand der Fahrscheine oder ähnliches kontrolliert. Und nicht zuletzt der Spruch: "Keine Panik!"
Seit den 2000er-Jahren finden sich zunehmend auch migrantische Wörter in der Jugendsprache wieder: "Die Chabos wissen, wer der Babo ist" sang der türkischstämmige Rapper Haftbefehl 2012. Jenseits der 30 versteht wohl kaum einer, was er damit sagen wollte, nämlich: "Die Jungs wissen, wer der Boss ist". Babo schaffte es immerhin, zum Jugendwort des Jahres 2013 gekürt zu werde - auch wenn die Jury, die alljährlich einen Begriff auswählt, von der Jugend nicht unbedingt ernst genommen wird.
VSCO-Girls pflegen BFFs
Auffällig ist, dass die Jugendsprache lange vom männlichen Geschlecht geprägt wurde. Das ändere sich jetzt, sagt Matthias Heine, Mädchen seien vor allem auf den Netzwerken TikTok und Instragram sprachlich sehr kreativ unterwegs. Die VSCO-Girls (benannt nach einer Bildbearbeitsapp) sind modebewusst und legen Wert auf ökologische Nachhaltigkeit. Sie pflegen BFF-Freundschaften (best friends forever) und sind krass auf dem Vormarsch. Zieht euch also megawarm an, ihr Babos - oder ist das schon wieder zu cringe?
Matthias Heine: Krass: 500 Jahre deutsche Jugendsprache. Verlag Duden, 272 Seiten.