Vielleicht bringen es die beiden amerikanischen Filme, die in diesem Jahr zum Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurden, am besten auf den Punkt. Sowohl "First Cow" von Kelly Reichardt als auch "Never Rarely Sometimes Always" von Eliza Hittman darf man getrost dem US-Independent-Film zurechnen, also dem nordamerikanischen Kino, das abseits von Hollywood entsteht.
Carlo Chatrian, der Italiener, der Dieter Kosslick abgelöst hat und fortan die künstlerischen Zügel in der Hand hält bei Deutschlands größtem Filmfestival (die Niederländerin Mariette Rissenbeek ist fürs Geschäftliche zuständig), dürfte die beiden amerikanischen Regisseurinnen nicht zufällig eingeladen haben. Sie stehen für ein Kino, das Chatrian bevorzugt und das er seinen Zuschauern zeigen will.
Kleine, konzentrierte Filme mit gesellschaftlichem Anspruch
Sowohl Reichardt als auch Hittman erzählen ihre Geschichten nicht mit großer Geste und Stars. Im Gegenteil: "First Cow" und "Never Rarely Sometimes Always" setzten auf erzählerische Beiläufigkeit und ästhetischen Minimalismus, auf genaues Hinschauen und Authentizität. Sie stehen für eine Kunst abseits von Glamour und Überwältigung. Man muss sich auf diese Filme einlassen, ein wenig Geduld mitbringen, dann entfalten sie Charme und Eindringlichkeit. Sie setzen sich in der Erinnerung der Zuschauer fest.
Stehen sie aber auch für politisches Kino? Ja, wiewohl es ein anderes politisches Kino ist, als man es in den vergangenen Jahren auf der Berlinale gesehen hat. Filme wie die von Reichardt und Hittman, wie andere in den verschiedenen Programm-Sektionen der Berlinale auch, entwickeln ihre Botschaft nicht in erster Linie über Postulate und griffige Dialoge. Sie erzählen mit Bildern und Einstellungen, über Atmosphäre und Stimmung, mit kleinen Gesten und viel Authentizität.
Insofern fügen sie sich gut ein in das Kinoverständnis von Carlo Chatrian. Für ihn ist Kino in erster Linie ein Ausdruck von Kunst. Sein Programm, das er zuvor beim Festival in Locarno gestaltet hat, all die Texte des ehemaligen Filmkritikers, auch die, die er für die 70. Berlinale geschrieben hat, zeigen eindrücklich: Chatrian ist ein Cineast, ein Kenner der Kinogeschichte. Boulevard und Botschaft sind nicht sein Ding. Die Berlinale hat 2020 einen intellektuelleren Anstrich bekommen.
Das heißt nicht, dass keine Hollywood-Stars eingeladen wurden: Sigourney Weaver und Johnny Depp, Willem Dafoe und Cate Blanchett, Elle Fanning und Salma Hayek - das ist keine schlechte Auswahl. Doch die Hollywood-Stars haben in den vergangenen Tagen nicht im Mittelpunkt gestanden. Sie wurden gefeiert und bewundert, der Rote Teppich gab ihnen eine Bühne. Doch das US-Kino, um noch einmal auf dessen Präsenz im Wettbewerb zurückzukommen, wurde von anderen bespielt.
Das Publikum ist der neuen Berlinale-Leitung gefolgt
Überhaupt: Ein derart großes Filmfestival wie die Berlinale lässt sich nicht auf eine Formel bringen. Also: Es gab Stars, sie standen aber nicht im Zentrum. Es gab politisches Kino, aber dieses musste nicht nur über eindeutige Kinobotschaften daherkommen. Es gab wieder eine Auswahl an Filmen, die jeden Zuschauer überfordern muss - wobei es gleichgültig ist, ob nun 340 Filme gezeigt werden (wie in diesem Jahr) oder 400, wie 2019. Die Zuschauer sind diesen Weg übrigens mitgegangen. Schon zur Halbzeit waren mehr Tickets verkauft als im letzten Jahr.
Stellvertretend für diesen neuen Stil der Berlinale steht auch die abschließende Preis-Gala, auf der die Bären vergeben wurden. Es standen bemerkenswert viele Künstler auf der Bühne, die sichtbar nicht das große Rampenlicht suchen - Filmschaffende, die lieber ihre Werke sprechen lassen, als dass sie große, perfekt einstudierte Reden schwingen.
Am Ende setzte sich ein dezidiert politischer Film durch
Es war nicht alles gut bei dieser Berlinale. Das Wettbewerbs-Niveau war nicht überragend. Und doch stimmt einen das neue filmische Konzept hoffnungsfroh, wird in ihm doch die Liebe zum Kino sichtbar. Kunst statt Boulevard und Botschaft könnte das Motto der 70. Berlinale im Nachhinein zu interpretieren sein. Und zum Schluss noch dies: Der Gewinner des Goldenen Bären, der iranische Film "There is no Evil" von Regisseur Mohammad Rasoulof, ist ein politischer Film, der auch in der Ära Dieter Kosslick mit dem Goldenen Bären hätte ausgezeichnet werden können. Insofern schlägt Rasoulof eine Brücke zwischen der "alten" und der "neuen" Berlinale.