Der Mann, der Rechtsgeschichte schrieb
21. November 2020Bis heute ist der inzwischen hundertjährige Benjamin Ferencz - genannt Ben - ein grundoptimistischer Mensch. Obwohl er als US-Soldat im Zweiten Weltkrieg und Chefermittler in Sachen Naziverbrechen Furchtbares erlebt und gesehen hat. "Es bringt ja nichts, in einem See aus Tränen zu ertrinken. Wer innerlich weint, sollte nach außen besser lachen", gibt er in einem aktuellen Buch über ihn ("Sag immer Deine Wahrheit", 2020) zum Besten.
Dank seines kriminalistischen Spürsinns hatten die Ankläger im Nürnberger Prozess, der am 20. November 1945 gegen die Hauptkriegsverbrecher, unter anderem Hermann Göring, Rudolph Heß, Baldur von Schirach, Ernst Kaltenbrunner, eröffnet wurde, ausreichend Beweismaterial und Nazidokumente in der Hand. "Ohne Ferencz hätte es diesen spektakulären Prozess vielleicht nicht gegeben", sagt Axel Fischer, Medienwissenschaftler vom Memorium Nürnberger Prozess im DW-Interview.
Seine Zeit als Soldat in der US-Armee begann trostlos: Der belesene Harvard-Absolvent Ben Ferencz, der sein Jura-Studium einem Stipendium für Hochbegabte zu verdanken hatte, fing als Schreibkraft in Camp Davis im US-Bundesstaat North Carolina an. Zu dem Zeitpunkt konnte er weder Schreibmaschine schreiben, noch ein Gewehr abfeuern. Klo putzen, Töpfe und Böden schrubben gehörten zum Dienst dazu.
Als Jurist an die Kriegsfront
Doch im Frühjahr 1944 wurde es für den jungen Mann ernst: Seine Kampfeinheit wurde im 2. Weltkrieg nach England verlegt. Am 6. Juni 1944, dem berühmten D-Day, sprang US-Soldat Ben Ferencz mit seinen Kameraden vom Landungsboot an den Omaha Beach der nordfranzösischen Küste der Normandie. Die Invasion der Alliierten hatte begonnen - und damit das Ende der Nazi-Vorherrschaft über Europa.
Beim Vormarsch der US-Truppen durchbrach Ferencz mit seiner Einheit den Westwall der Nazis, kämpfte bei der Ardennenoffensive an vorderster Front und überquerte dann später im Frühjahr 1945 mit den siegreichen Amerikanern die Brücke von Remagen über den Rhein. Dass er den Krieg überlebt habe, sei pures Glück gewesen, sagte er später.
Im Hauptquartier der 3. US-Armee von General Patton wurden nach Kriegsende erfahrene Leute gesucht, um Beweismittel für die Kriegsverbrechen der Nazis zu sichern. Der junge Jurist bekam endlich einen Job, der seinen Fähigkeiten gerecht wurde.
Keine Rache, sondern Gerechtigkeit
Mit dem Blick des Juristen durchkämmte Ben Ferencz die nächsten Monate mit seinem Team NS-Dienststellen, Schreibstuben der SS und die von der US-Armee befreiten Konzentrationslager nach Beweismaterial. Was er in Buchenwald, Dachau, Mauthausen und anderen Lagern vorfand, überstieg seine Vorstellungskraft von den grausamen Verbrechen und kriminellen Mordmaschinerien der Nazis. "Niemand hat gesehen, was ich gesehen habe. Ich war da, als die amerikanischen Panzer ankamen und die Leichen noch auf dem Boden lagen, aufgestapelt - um in den Krematorien verbrannt zu werden", erzählte er im DW-Interview.
"Wichtig war, Beweise zu sichern, die Listen der Häftlinge, die Namen der Lagerleitung und der Verantwortlichen bei der SS", so Ben Ferencz in seinen Erinnerungen. "Auf dieser Grundlage stellten wir Haftbefehle aus, um die Personen festzusetzen. Wir sicherten alle Beweismittel und fuhren direkt zum nächsten Lager."Unterwegs trafen sie auf Einheiten der Roten Armee, die kurzen Prozess mit aufgegriffenen SS-Leuten machten. In dem Moment wurde dem Juristen in Uniform klar, dass es ihm - der selbst aus einer jüdischen Familie stammte - nicht um Rache und Vergeltung, sondern um Gerechtigkeit ging.
Den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes, der am 20. November 1945 begann, erlebte er nur als Zuschauer mit. Seine Rückkehr ins zivile Leben in den USA war längst geplant. "Bei Prozessbeginn waren die Reihen dicht gedrängt voll. Das Publikum saß oben auf der Empore. Aber im Verlauf des Prozesses leerten sich die Ränge. Die Deutschen zeigten kaum mehr Interesse."
Zurück in Amerika war Ben Ferencz erstmal arbeitslos, keine Kanzlei wollte ihm einen Fall anvertrauen. Ein Telegramm aus dem Pentagon beorderte ihn überraschend zu General Telford Taylor, ein ausgezeichneter Jurist und von US-Präsident Truman persönlich als Verantwortlicher für die Nürnberger Nachfolgeprozesse eingesetzt. Taylor berief Ferencz umgehend in seine Einsatzgruppe "Germany".
"Die erste Aufgabe, die ich von Taylor bekam, war, nach Berlin zu gehen und dort Beweise für die ungeheuren Nazi-Verbrechen zu sammeln", erinnert sich Ferencz in dem Dokumentarfilm "A man can make a difference" (2015) von Regisseurin Ullabritt Horn. "Die USA fanden, dass der Nürnberger Prozess gegen die 22 Top-Nazis nicht vollständig erklären konnte, wie sowas in einem zivilisierten Land wie Deutschland hatte geschehen können."
Hauptsitz der zentralen US-Ermittlungsstelle wurde die kriegszerstörte Hauptstadt. Groß-Berlin war inzwischen von den vier Besatzungsmächten - USA, Großbritannien, UdSSR und Frankreich - in getrennte Sektoren aufgeteilt worden. Jede Besatzungsmacht hatte ihre eigenen Strafverfolgungsmethoden.
Aber Ben Ferencz und sein 50-köpfiges Ermittler-Team bekamen freie Hand, stellten Unmengen von Dokumenten und Belastungsmaterial der umfangreichen NS-Bürokratie sicher. Vor allem die Berliner Gestapo-Zentrale erwies sich als Hort deutscher Gründlichkeit. "Wir durchsuchten systematisch alle Nazi-Archive", berichtet Ben Ferencz in der Film-Dokumentation. "Das war eine Goldgrube."
Chefankläger im "Einsatzgruppen-Prozess"
Im Frühjahr 1947 stieß ein Mitarbeiter zufällig in den Aktenschränken des Auswärtigen Amtes auf drei dicke Leitz-Ordner, beschriftet mit "Ereignismeldungen aus der UdSSR - Berichte von der Ostfront". "Es waren Berichte von SS-Spezialeinheiten, getarnt durch einen scheinbar bedeutungslosen Namen: Einsatzgruppen. Niemand wusste, was das war", erinnert sich Ferencz.
Es sind detaillierte Auflistungen eines Tötungsprogramms, mit dem die SS in Osteuropa Hunderttausende von Juden, Sinti und Roma ermordeten. Ben Ferencz erkannte schnell die Brisanz des Fundes. "Das sah ganz harmlos aus, aber innen war es mit dicken Stempeln als 'Geheime Reichssache' gekennzeichnet", erzählt der erfolgreiche Strafermittler vor der Kamera.
Diese Beweisstücke waren juristisches Fundament für einen der größten Mordprozesse der Geschichte: Am 15. September 1947 hielt Ben Ferencz im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes sein Eröffnungsplädoyer im Einsatzgruppen-Prozess. Er war mit 27 der jüngste Chefankläger der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, die nach 1946 von den Vereinigten Staaten allein weitergeführt wurden.
Angeklagt waren 24 Männer der "SS-Einsatzgruppen", stellvertretend für deren insgesamt 3000 Mitglieder. "Ich war hier mit Massenmord konfrontiert. Und ich wollte diese Mistkerle nicht davon kommen lassen", so Ferencz im Gespräch mit der DW. "Ich dachte, wie kann ich Gerechtigkeit schaffen? Einerseits habe ich 24 Angeklagte und andererseits habe ich eine Million Opfer, sagte ich mir damals. In so einer Situation wird es nie Gerechtigkeit geben."
"Wir durchsuchten alle Nazi-Archive"
Nur vier der Todesurteile des Gerichtes wurden am Ende vollstreckt. Viele der Naziverbrecher in Ost- und Westdeutschland verbüßten nur kürzere Haftstrafen, manche kamen vorzeitig frei. Der Kalte Krieg zwischen Ostblock und Westmächten warf erste Schatten auf die Entnazifizierung.
Initiative für Internationalen Strafgerichtshof
Für Ben Ferencz, der als Sohn jüdischer Eltern 1920 in den transsilvanischen Karpaten geboren wurde und in großer Armut in New York aufwuchs, waren diese Erfahrungen in Nachkriegs-Deutschland prägend. Als Bevollmächtigter der Jewish Claims Conference setzte er sich später unermüdlich für das Wiedergutmachungs-Abkommen zwischen Israel und der BRD ein, das 1952 in Luxemburg unterzeichnet wurde.
Und auf seine beharrliche Initiative geht die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag im Jahr 2002 zurück, vor dem bis heute Kriegsverbrechen geahndet und sogar Staatschefs juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. "Er ist ein Mann mit Überzeugungen, mit Prinzipien", sagt Fatou Bensouda, die heutige Chefanklägerin des ICC, anerkennend über Ben Ferencz. "Was er macht, tut er mit Leidenschaft."
2010 bekam Benjamin Ferencz für seinen lebenslangen Einsatz fürs Völkerrecht im Auswärtigen Amt das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland überreicht. Aber seine wohl wichtigste Ehrung erhält der inzwischen Hundertjährige in Nürnberg, der Stätte seiner ersten juristischen Erfolge.
Seine Keynote wird als Videobotschaft aus den USA die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Nürnberger Prozesses am 20. November 2020 eröffnen. Erst nach ihm spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.