Deutschland: Russische Community vor Zerreißprobe
2. Mai 2022Es geht ein Riss durch die russischsprachige Gemeinschaft in Deutschland - zwischen prorussischen Demonstranten, die öffentlichkeitswirksam in Autorkorsos durch Städte rollen, und der großen Mehrheit der Putin-Kritiker, die den russischen Angriffskrieg auf Solidaritäts-Kundgebungen für die Ukraine verurteilen. Es ist ein Riss, der Familien, Freunde, Beziehungen spaltet, zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen führt.
Am 9. Mai dürfte er noch tiefer werden. Denn an dem Tag, an dem Russland seinen wichtigsten Feiertag zelebriert, den Sieg der Roten Armee über Hitler-Deutschland 1945, wollen prorussische Gruppen wieder auf die Straße gehen. In den vergangenen Jahren missbrauchte Putin das Gedenken immer mehr für seine Propaganda. Das dürfte in diesem Kriegsjahr eine noch größere Rolle spielen, auch in Deutschland.
Sorge vor einer Eskalation
"Es wächst die Sorge, dass die zahlreichen angekündigten Events zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. und 9. Mai - in Berlin sind es laut Landeskriminalamt schon 30 - zu einer Eskalation führen könnten", sagte Fabio Ghelli vom Mediendienst Integration, einer Informations-Plattform zu den Themen Flucht, Migration und Diskriminierung. Eine Befürchtung, die Medina Schaubert teilt. Die ehrenamtliche Geschäftsführerin des Berliner Vereins Vision klärt russischsprachige Menschen über die Staatspropaganda des Kreml auf und warnt davor, dass Berichte über Putin-freundliche Demos ein verzerrtes Bild der russischsprachigen Gemeinschaft in Deutschland zeichnen könnten.
"Dagegen versuchen wir anzukämpfen", sagte Schaubert auf einer Online-Informationsveranstaltung des Mediendienstes Integration. Denn Berichte über Kundgebungen von Putin-Sympathisanten spielten der russischen Propaganda in die Hände. "Sobald hier ein Autokorso stattfindet, stellt RIA Novosti [Red.: Die russische Agentur für internationale Informationen] auf ihrem Online-Portal sofort ein Video dazu ein." Mit potenzierendem Effekt. Denn die Videos würden wiederum auch von noch verunsicherten Russischsprachigen gesehen, sagt Schaubert, "die sich unter dem Einfluss der Propaganda fragen, da gehen doch die Leute dafür auf die Straße, warum nicht ich?"
Spaltung durch russische Propaganda
Der russischsprachigen Community in Deutschland gehören rund 3,5 Millionen Menschen an. Darunter sind Zugewanderte aus Russland, aber auch aus anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Aktuelle Daten, über welche Medien sie sich informieren, gibt es allerdings nicht. Die russischen Staatsmedien spielen in einigen Haushalten allerdings eine wichtige Rolle, mit spalterischer Wirkung. Umso wichtiger sei es, erklärte Medina Schaubert, über Gegendemonstrationen und Solidaritätskundebungen für die Ukraine zu berichten, "von denen es am 8. Und 9. Mai sehr viele geben wird".
Man dürfe das Bild der Community nicht so darstellen, als ob es in Deutschland nur Putin-hörige Menschen gäbe, so Schaubert. "Die Spaltung der Russischsprachigen von der restlichen Gesellschaft wird definitiv damit vorangetrieben." Die ehrenamtliche Geschäftsführerin des Berliner Vereins Vision ist selbst ein Opfer von Putins Propagandamaschinerie. Seit der Krim-Annexion 2014 könne sie mit zwei Verwandten nicht mehr sprechen. "Ich weiß genau, dass wenn wir uns an einen Tisch zusammensetzen, dann schreien wir uns zwei, drei Stunden an und gehen mit roten Köpfen auseinander." Beide Verwandte seien begeistert von dem, was sie als Putins Disziplin und Ordnung sähen, "obwohl sie nie in Russland gewesen sind, um das zu evaluieren", berichtete Schaubert.
Drei russischsprachige Gruppen
Sergej Prokopkin, Jurist und Antidiskriminierungstrainer, warnte vor Fake News und gezielter Propaganda im Zusammenhang mit mutmaßlich russenfeindlichen Straftaten. Bei Autokorsos gegen vermeintliche Russophobie würden teilweise erfundene Diskriminierungsvorfälle thematisiert, sagte er. Die Autokorsos seien wenig hilfreich, "da entsteht eher Hass" gegenüber Menschen aus der Ukraine, sagte Prokopkin.
In der russischsprachigen Community seien drei Gruppen zu beobachten, sagte Tatiana Golova, Soziologin am Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin: politisch aktive Gegner des Angriffs auf die Ukraine, Menschen, die sich nicht positionieren wollten, sowie Menschen, die gegen die Diskriminierung russischsprachiger Menschen in Deutschland protestierten und dabei teilweise auch "den russischen Staat und seine aggressive Außenpolitik unterstützen". Neu sei, dass sich die verschiedenen Gruppen bei ihren Aktionen inzwischen auch aufeinander bezögen, etwa wenn zu einer Kundgebung eine Gegenkundgebung angekündigt werde.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser dürfte die prorussischen Kundgebungen zum Gedenktag am 9. Mai genau im Blick haben. Auf Twitter schrieb sie bereits am 10. April, die Polizei schaue sehr genau hin, wer Putins Angriffskrieg verherrliche. Das könne als Straftat in Deutschland verfolgt werden. "Ich bin für ein konsequentes Durchgreifen, wann immer die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten ist. Hier haben wir als Staat einen Schutzauftrag."
Wie stark sich der Krieg hierzulande bereits auswirkt, verdeutlicht eine aktuelle Umfrage des Mediendienstes Integration unter den Kriminalämtern der Bundesländer und dem Bundeskriminalamt. Demnach haben die Behörden seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar rund 1700 Straftaten im Zusammenhang mit dem Angriff erfasst. Am meisten wurden Sachbeschädigungen registriert, etwa zerstörte Schaufenster, zerstochene Autoreifen oder Graffiti an Gebäuden.
Mehr als 200 Straftaten wöchentlich
Die Straftaten richteten sich gegen Personen oder Gewerbe, darunter auch, aber nicht nur, gegen ukrainisch- und russischstämmige Menschen. Vereinzelt kam es zu Gewalttaten. "Das Bundeskriminalamt spricht von 200 Straftaten wöchentlich, Tendenz abnehmend", heißt es in dem Papier der Umfrage des Mediendienstes.
Ein weiteres Ergebnis der Umfrage: Bundesweit wurden mittlerweile über 170 Ermittlungsverfahren eingeleitet, die im Zusammenhang mit der Verwendung des Z-Symbols stehen. Das Z-Symbol gilt als Zeichen der Zustimmung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.