Aachener Friedenspreis für türkische Initiative
1. September 2016Die Initiative startete im Januar 2016 eine Petition mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" und forderte von der Regierung, die militärischen Operationen in den kurdischen Gebieten einzustellen. Mehr als tausend Wissenschaftler unterschrieben die Petition. Viele zahlten dafür einen hohen Preis: Einige haben ihren Job verloren, gegen die meisten läuft ein Disziplinarverfahren. Vier Unterzeichner wurden wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt und kamen in Untersuchungshaft, darunter Esra Mungan.
DW: Frau Mungan, was bedeutet der Aachener Friedenspreis für Sie?
Mungan: Dieser Preis ist für uns von enormer Bedeutung, besonders, wenn man an die rechtlichen, verwaltungstechnischen, durch Mainstream-Mediem unterstützen Angriffe und die Gewalt gegen uns denkt. In einer Zeit, in der wir diesen fürchterlichen Ereignissen ausgesetzt sind, so einen Preis zu bekommen, gibt uns Kraft und Halt. Und nachdem wir uns die früheren Preisträger angesehen haben, ist der Preis für uns noch bedeutsamer geworden.
Sie wurden festgenommen, weil Sie die Petition "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" unterschrieben haben. Dann wurden Sie am 22. April freigelassen. Welchem Druck waren die Unterzeichner ausgesetzt?
Insgesamt 41 Kollegen, die ebenfalls die Petition unterstützt haben, wurden festgenommen, auch wenn sie später wieder freigelassen wurden. Wegen Ausreisesperren können sechs Kollegen nicht ins Ausland reisen. Einer von ihnen besitzt sogar die deutsche Staatsbürgerschaft und kann nicht in sein Land zurückkehren. Dazu kommen noch die Kollegen, die aus den Universitäten entlassen wurden, die ihrer Ämter enthoben wurden oder deren Beförderung verhindert wird. Das heißt, es geht hier nicht um uns vier, die inhaftiert worden sind, sondern um viele mehr.
Haben Sie von ihren europäischen Kollegen Unterstützung bekommen?
Von den deutschen Hochschulen haben wir sehr viel Unterstützung bekommen. Uns haben in erster Linie Kollegen aus Deutschland, Frankreich, England, aber auch aus anderen Ländern unterstützt. Zudem hat Deutschland unseren momentan arbeitslosen Kollegen durch Stipendien der Philipp-Schwartz-Initiative geholfen. Deutschland hat es möglich gemacht, dass unsere Kollegen an den verschiedenen Universitäten Deutschlands ihre Forschungstätigkeiten fortsetzen können. Somit hat Deutschland eine ganz wichtige Rolle übernommen.
Seit dem 15. Juli werden in der Türkei umfassende Ermittlungen und Maßnahmen gegen die Gülen-Bewegung und deren mutmaßliche Anhänger durchgeführt. Wie bewerten Sie das Vorgehen der Regierung?
Man hat damals eine Hexenjagd gegen uns gestartet, weil man unsere Stimme, die laut "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" geschrien hat, unterdrücken wollte, uns mundtot machen wollte. Seit dem 15. Juli geht man gegen eine Gruppe in der Armee vor, die für diesen Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Das Ziel dieser religiösen Organisation (Gülen, d. Red.) war, den Staat insgesamt unter die eigene Kontrolle zu bringen. Soweit ich das einordnen kann, könnte man diese Organisation mit dem Opus Dei in den katholischen westlichen Ländern vergleichen. Trotzdem versucht man, an den Universitäten nicht nur gegen die mutmaßlichen Gülen-Mitglieder vorzugehen, sondern auch gegen uns Wissenschaftler für den Frieden. Das ist schon sehr auffällig. Dabei stellt diese Organisation genau das Gegenteil von uns dar, weil sie eine geschlossene, geheime, sektenähnliche Organisation ist, die in der Vergangenheit sogar die Justiz für eigene Zwecke benutzt hat, um Gewalt auszuüben. Sie ist eine furchterregende Organisation.
In letzter Zeit häuften sich die Anschläge der PKK. Es werden Sicherheitskräfte genauso wie Zivilisten getötet. Wie beurteilen Sie das nach dem 15. Juli?
Jeder weiß, wenn man die politischen Kanäle versperrt, wenn man eine Partei wie die (prokurdische, d. Red.) HDP, die am 7. Juni 2015 13 % der Stimmen bekommen hat, in eine Lage versetzt, in der sie handlungsunfähig ist, keine Politik mehr machen kann, dann sprechen die Waffen. Es ist dann auch für uns sehr schwierig, dem entgegenzuwirken. Heute sprechen leider die Waffen. Genau deshalb hört man nicht mehr unsere Stimme, die für den Dialog eintritt. Diese auf Krieg gründende Politik kann nur gestoppt werden, wenn beide Seiten Kompromisse schließen. Ich hoffe, dass das geschieht, weil die Türkei mittlerweile ein Land geworden ist, in dem Menschen nicht mehr aufgrund ihres Schicksals sterben, sondern vorsätzlich getötet werden. Das ist sehr traurig.
Es laufen Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung, es gibt den Ausnahmezustand. Vor kurzem marschierte auch die türkische Armee in Syrien ein. Was glauben Sie, wie das alles die türkische Gesellschaft beeinflusst?
Ich fühle mich sehr weit entfernt vom Idealbild eines Landes, das Frieden schließt, das sich in der Welt integriert, das demokratischer wird. Stattdessen fühle ich mich in einer maskulinen Welt gefangen, in der Hass, Militarismus, Krieg und Tod verherrlicht werden. Mir stockt dabei der Atem. Aber trotz allem weiß ich, dass es in der Türkei wie in der ganzen Welt Frauen gibt, die für den Frieden eintreten. Es gibt Wissenschaftler, die für den Frieden sind. Das heißt, es gibt Menschen, die sich für Frieden, Gleichheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit einsetzen. Wir werden unseren Kampf fortsetzen, es ist die grundlegende moralische Pflicht von uns allen.
Esra Mungan, Psychologie-Dozentin an der Boğaziçi-Universität in Istanbul, nimmt dieses Jahr den Aachener Friedenspreis im Namen der Initiative "Komitee der WissenschaftlerInnen für den Frieden" entgegen.
Das Gespräch führte Aram Ekin Duran.