Abhörskandal erschüttert Ukraine
17. Januar 2020Das neue Jahr beginnt in der Ukraine im Krisenmodus. Auf den Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs im Iran folgt eine Regierungskrise. Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk teilte am Freitag mit, dass er Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Rücktrittsgesuch geschickt habe. Selenskyj lehnte das Rücktrittsgesuch am Freitagabend ab; er wolle Hontscharuk eine zweite Chance geben.
Hintergrund der Krise sind Tonaufnahmen aus einem Gespräch von Hontscharuk im engen Regierungskreis, bei dem auch einige Minister dabei waren. In dem sechsminütigen Mitschnitt geht es unter anderem um Probleme, die mit der unerwartet rasanten Erstarkung der nationalen Währung Hrywna verbunden sind. Hontscharuk soll in dem Gespräch gesagt haben, Präsident Selenskyj verstehe wenig von der Wirtschaft; angeblich beschreibt er aber auch sich selbst als "Banausen". Die Aufnahme wurde auf einem anonymen YouTube-Kanal veröffentlicht. Trotz schlechter Tonqualität erscheint die Aufnahme authentisch; allerdings wurde sie zusammengeschnitten.
Hontscharuk sieht sich als Opfer einer Intrige
Ein Augenöffner ist die Enthüllung nicht. Selenskyjs Wähler dürfte sie kaum überraschen. Vor seinem Sieg bei der Präsidentenwahl im April 2019 war der 41-jährige Selenskyj ein erfolgreicher Schauspieler, Comedian und TV-Produzent ohne politische Erfahrung oder Wirtschaftshintergrund. Auch der 35-jährige Premier Hontscharuk, der jüngste in der ukrainischen Geschichte, verfügt über wenig Erfahrung in der Volkswirtschaft. Er hatte Jura studiert und war auf dem privaten Immobilienmarkt aktiv.
Hontscharuk sieht sich als Opfer einer Intrige derer, denen die Reformen seiner Regierung lukrative Geschäfte kaputtmachen. Namen nennt er nicht. Medien spekulieren, dass ein mächtiger Oligarch hinter dem Abhörskandal stecken könnte. Andere, wie der frühere Präsident Petro Poroschenko, vermuten russische Geheimdienste. Selenskyj hat am Freitag eine Untersuchung angeordnet, wer hinter der Aufnahme steckt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder hat jemand aus dem Teilnehmerkreis das Gespräch heimlich mitgeschnitten, oder im Raum war ein Abhörgerät versteckt.
Für den Ministerpräsidenten ist es die bisher größte innenpolitische Herausforderung. Hontscharuk ist erst seit Ende August 2019 im Amt und hat in kurzer Zeit mehrere tiefgreifende Veränderungen angestoßen, Spitzenpersonal ausgewechselt und vor allem die Digitalisierung der Staatsdienste vorangetrieben. Er zählt auch die Verlängerung des Gastransitvertrages mit Russland zu den großen Erfolgen seiner Regierung. Doch es gibt auch Kritik. So sorgen seit einigen Tagen Medienberichte über zum Teil drastische Gehaltserhöhungen für seine Minister und Leiter staatlicher Firmen für Aufregung. In einigen Fällen soll es um das Zehn- oder sogar Hundertfache eines ukrainischen Durchschnittsgehalts (umgerechnet 400 Euro) gehen. Hontscharuk relativierte und rechtfertigte höhere Zahlungen mit dem Ziel, Korruption zu bekämpfen.
Regierung genießt Kündigungsschutz
Allerdings hat Hontscharuk gute Chancen, vorerst im Amt zu bleiben. In der Ukraine entscheidet über die Entlassung des Ministerpräsidenten nicht der Präsident, sondern das Parlament; nachdem Selenskyj sich gegen die Annahme des Rücktrittsgesuchs entschieden hat, wird er Hontscharuks Rücktrittsangebot gar nicht erst an die Abgeordneten weiterleiten.
Die Macher der Skandal-Aufnahme haben unterdessen weitere Enthüllungen angekündigt. Die Ukraine hat eine lange und dunkle Geschichte geheimer Aufzeichnungen von Politikergesprächen, die das Land bis hin zum Präsidentenamt immer wieder erschüttert haben.