Bohrende Fragen zum Afghanistan-Debakel
16. Dezember 2022"Wie kam es zu der fragwürdigen Lageeinschätzung, zur blitzschnellen Machtübernahme der Taliban und dem hastigen Abzug aus Afghanistan?" Diese Frage stellte der Sozialdemokrat Ralf Stegner im Juni 2022 in einer Bundestagsdebatte. Zehn Monate vorher, im August 2021, hatten die Taliban Kabul zurückerobert. Die von Beginn an umstrittene internationale Militär-Mission unter Führung der USA, an der sich auch Deutschland beteiligte, endete nach 20 Jahren mit einem Debakel.
Inzwischen leitet Ralf Stegner einen Untersuchungsausschuss des Parlaments, in dem nach Antworten auf seine Frage gesucht wird. Seit September werden Zeugen befragt. Alle hatten oder haben irgendwie mit dem deutschen Afghanistan-Engagement zu tun. Sie arbeiten in Ministerien, für Hilfsorganisationen oder waren als einheimische Ortskräfte unter anderem für die Bundeswehr tätig. Was sie eint: die Enttäuschung, das Entsetzen darüber, dass ihr mitunter lebensgefährlicher Einsatz erfolglos war.
Das Doha-Abkommen war der entscheidende Wendepunkt
Erklärungsversuche für das Scheitern gibt es einige, aber ein Stichwort zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses und wird als entscheidende Zäsur betrachtet: das Doha-Abkommen zwischen der US-Regierung und den Taliban vom Februar 2020. Darin wurde der schrittweise Abzug der amerikanischen Truppen vereinbart. Weder die afghanische Regierung noch die Verbündeten der USA waren an den Verhandlungen beteiligt gewesen.
"Die Zusammenarbeit hätte besser sein können", sagt Ralf Stegner im DW-Interview über den diplomatischen und militärischen Wendepunkt. Zugleich betont er nach drei Monaten Untersuchungsausschuss, noch immer am Anfang der Aufklärung zu stehen. Aber einige Dinge zeigten sich schon über den längsten, größten und teuersten Auslandseinsatz der Bundeswehr, meint der 63-Jährige. So könne die Einschätzung, Afghanistan werde an die Taliban fallen, am Ende für niemanden mehr überraschend gewesen sein. "Eigentlich gab es spätestens ein dreiviertel Jahr davor kaum noch andere Einschätzungen."
Drogenwirtschaft und Korruption
Der Ausschuss-Vorsitzende nennt eine ganze Reihe weiterer Faktoren, mit denen sich die gescheiterte Afghanistan-Mission erklären lässt: Fokussierung auf die Hauptstadt Kabul, eine von der Bevölkerung wenig akzeptierte Regierung, Korruption, Drogenwirtschaft. So sehen es auch Fachleute aus Wissenschaft und Medien. "Man bekommt viele Hinweise, dass Vieles schiefgelaufen ist", sagt Ralf Stegner. Ob wider besseres Wissen oder ohne Wissen, dieser Frage müsse man nachgehen.
Alles andere als optimal ist offenkundig die Evakuierung von afghanischen Ortskräften und ihren Familien gelaufen. Dieser Eindruck hat sich durch zahlreiche Berichte Betroffener im Untersuchungsausschuss verfestigt. Viele ehemalige Ortskräfte müssen die Rache der Taliban fürchten.
Der bürokratische Blick stand dem humanitären im Weg
Ralf Stegner hätte sich in dieser Situation mehr Pragmatismus gewünscht. Von Fahrern über Dolmetscher bis zu Wissenschaftlern und Entwicklungshelfern – sie alle hätten für Deutschland ihren Kopf hingehalten. Als es darum ging, sie nach Deutschland zu holen, habe manchmal der "bürokratische Blick" den humanitären verstellt, vermutet der Ausschuss-Vorsitzende.
So sieht es auch die Linken-Abgeordnete Clara Bünger. Afghanische Ortskräfte hätten ihren deutschen Arbeitgebern vertraut, aber oft keine Unterstützung erhalten. Über das Evakuierungsverfahren sei gar nicht oder viel zu spät informiert worden. "Das erhärtet meinen Verdacht, dass man die Menschen im Stich gelassen hat", sagt die 36-Jährige im DW-Gespräch.
Schwere Vorwürfe einer ehemaligen Ortskraft
Frauen seien unter Druck gesetzt worden, allein auszureisen, also ohne Familienangehörige. Diesen Vorwurf bestätigte eine Zeugin, die von 2018 bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 als Ortskraft bei der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beschäftigt war. Über zwei Stunden schilderte sie im Untersuchungsschuss, unter welchen Umständen sie ihre Heimat verlassen musste. Demnach konnte sie erst nach vier dramatischen Tagen auf dem Flughafen in Kabul über den Umweg Usbekistan nach Deutschland ausgeflogen werden.
Im Exil bangt die ausbildete Journalistin weiter um das Leben von Familienangehörigen. Die Taliban hätten mehrfach die Wohnung ihrer Eltern in Afghanistan aufgesucht und nach ihr gefragt. Deshalb habe sie ihren früheren Vorgesetzten bei der KfW um Hilfe gebeten. Der habe geantwortet, den Eltern werde durch das für Entwicklungshilfeorganisationen zuständige Risk Management Office (RMO) geholfen.
Viele sorgen sich um ihre Familienangehörigen
Sie habe jedoch in Telefonaten erfahren, dass weder ihrer Familie noch anderen Ortskräften geholfen worden sei, berichtete die Zeugin. Ihr früherer Chef antworte schon lange nicht mehr auf ihre Hilferufe. Sie bereue, drei Jahre für die KfW gearbeitet zu haben. Nach ihrer Darstellung teilen viele afghanische Frauen in Deutschland das gleiche Schicksal: Sie könnten ihre Familienangehörigen nicht nachholen.
Clara Bünger hält diese Vorwürfe für "gravierend". Deutschland trage eine große Verantwortung für diese Menschen. Aber die bisherige Bilanz sei "erschreckend". Die Linken-Abgeordnete verweist auf eine parlamentarische Anfrage ihrer Fraktion an die Bundesregierung. Die Antwort kam im September, kurz vor der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses.
"Wir müssen da noch einen tiefen Blick reinwerfen"
Zu diesem Zeitpunkt gab es demnach Zusagen für mehr als 36.000 ehemalige afghanische Ortskräfte und andere besonders gefährdete Afghanen, gemeinsam mit Familienangehörigen nach Deutschland kommen zu dürfen. Rund 25.000 sollen inzwischen ausgereist sein. Clara Bünger gibt sich damit jedoch nicht zufrieden. Der Untersuchungsausschuss kratzt nach Einschätzung der Linken-Abgeordneten auch und gerade bei diesem Thema eher an der Oberfläche. "Wir müssen da noch einen tiefen Blick reinwerfen", fordert die Linken-Politikerin.
"Den Dingen muss man natürlich nachgehen", sagt auch Ralf Stegner zum Umgang mit ehemaligen Ortskräften. Dass dieser letzte Akt wie so vieles andere in der Afghanistan-Mission zumindest teilweise schiefgelaufen ist, erklärt sich der Ausschuss-Vorsitzende mit einer fehlenden gemeinsamen Strategie aller beteiligten Akteure. Sei es auf der politischen, militärischen oder zivilen Ebene.
"Jeder hat seine eigene Perspektive gehabt."
Das habe manchmal nichts mit dem vernetzten Ansatz zu tun gehabt, "von dem immer die Rede ist". Ralf Stegners Kritik gilt allen: Außenministerium, Entwicklungsministerium, Innenministerium, Kanzleramt, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundeswehr. "Jeder hat seine eigene Perspektive gehabt."