"Dialog mit Serbien ist nicht unsere Priorität"
18. Dezember 2019Deutsche Welle: Zwei Monate nach den Wahlen hat Kosovo noch keine Regierung. Was hindert Sie an der Bildung der neuen Koalition mit der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK)?
Albin Kurti: Wir führen schon seit langem Gespräche über das Regierungsprogramm. Wir haben hiermit eine neue Kultur der Regierungsbildung gezeigt, in der zuerst über das Programm diskutiert wird. Die Verhandlungen über die Aufteilung der Zuständigkeiten in der Exekutive begannen jedoch erst nach der Bestätigung der Ergebnisse. Diese verzögerte sich durch unterschiedliche Zählungen und Nachzählungen. Wir sind jedoch dabei, die Regierungsgespräche abzuschließen.
Während der Gespräche sind Sie sehr oft nach Deutschland gereist. Was sind Deutschlands zentrale Anforderungen an die kommende kosovarische Regierung?
Wir haben in Deutschland eine große Diaspora, etwa eine halbe Million, die den größten Teil der Transferzahlungen aus dem Ausland ausmacht. Deutschland ist der Wirtschaftsmotor der Europäischen Union. Außerdem unterhält die Demokratische Liga des Kosovo Beziehungen zur CDU (Christdemokraten), während wir mit der SPD (Sozialdemokraten) verbunden sind. Wenn ich dorthin gehe, treffe ich mich mit Diplomaten und Staatsbeamten, mit SPD-Abgeordneten. Ich treffe aber auch CDU- und CSU-Abgeordnete. Wir wollen die Beziehungen zu Deutschland ausbauen und vertiefen. Dort diskutieren wir zwei Hauptthemen. Das erste Thema betrifft die internen Reformen im Kosovo, wie man den Staat aus der Krise befreien kann, wie man Arbeitslosigkeit und Armut lindert, wie man Kriminalität und Korruption bekämpft.
Was sind Ihre Ansätze zu diesen Themen?
Wir wollen eine fünffache Reform durchführen: eine Justizreform, eine Wirtschaftsreform, eine Bildungsreform, eine Gesundheitsreform und eine Sicherheitsreform. Die Justizreform und die Sicherheitsreform werden im Rahmen eines Überprüfungsprozesses durchgeführt. Hierbei sollen nicht nur Staatsanwälte und Richter, sondern auch hochrangige Funktionäre des Geheimdienstes und der Polizei überprüft werden. Wir wollen ein duales Bildungssystem, wie in Deutschland, der Schweiz und Österreich aufbauen, wo Schüler und Studenten mehrere Tage in Schulen und Hochschulen und ein oder zwei Tage im Unternehmen verbringen. Wir wollen Auslandsinvestitionen fördern und damit mit der Diaspora anfangen: Denn es ist schwierig, Auslandsinvestitionen zu fördern, wenn aufgrund der hohen Korruption nicht einmal unsere Diaspora zu uns kommt. Und vor allem werden wir die Korruption in der Regierung, in Institutionen und in der Gesellschaft bekämpfen.
Das zweite Themenfeld ist wohl der Dialog mit Serbien. Deutschland drängt auf eine schnelle Wiederaufnahme und auf die Aufhebung der Zölle auf serbische Waren.
Das stimmt. Das zweite Thema betrifft unsere Beziehungen zu Serbien und zu den anderen Ländern des Westbalkans. Wir als LVV-Partei (Vetevendosje) sind uns mit der LDK und mit unseren anderen deutschen und europäischen Partnern einig, dass wir unser Land so schnell wie möglich in die EU integrieren wollen. Aber wir wissen, dass das nicht allzu schnell passieren wird. Wir sind kein Staat in der Europäischen Union, aber wir bauen Europa in uns auf, von uns aus. Was die Beziehungen zu Serbien betrifft, so haben wir vereinbart, dass wir uns mit dem Nachfolger von Federica Mogherini, Josep Borrell, dem Hohen Vertreter der EU für Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit, treffen müssen, um die Vorbereitung des künftigen Dialogs auf der Basis von klaren und genauen Prinzipien zu erörtern. Wir dürfen nicht wieder scheitern. Anderseits haben wir während des sechsjährigen Dialogs 2011-2017 bereits 33 Abkommen mit Serbien abgeschlossen. Es ist wichtig, zu überprüfen, wie viel davon umgesetzt wurde, damit wir daraus Lehren für die Zukunft ziehen können. Wir haben mit der LDK die Vereinbarung getroffen, dass wir die hundertprozentigen Zoll-Gebühren gegen die Bedingung der politischen, wirtschaftlichen und handelspolitischen Reziprozität mit Serbien austauschen wollen. Diese Reziprozität sieht auch die Verfassung von Kosovo, die am 7. Dezember 2011 beschlossen wurde, vor.
Also erst die Reziprozität und dann die Aufhebung der Zollgebühren?
Erst die Reziprozität. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass die Botschafter der Quint-Staaten (Deutschland, USA, Frankreich, Italien, Großbritannien- Anm. d. Red.) in Kosovo Serbien dazu aufgerufen haben, ihre Kampagnen gegen die Anerkennungen des Kosovo sowie gegen die Mitgliedschaft Kosovos in internationalen Organisationen zu unterlassen. Belgrad macht aber hier Rückschritte: Der Staatschef dort hat vor kurzem angekündigt, dass er den Beitritt Kosovos in die UNESCO verhindern werde.
Stimmen Sie zu, dass ein Kompromiss so bald wie möglich erzielt werden soll und dass dieser, wie häufig von US-Vertretern speziell erörtert wurde, auch zu Grenzänderungen führen könnte?
Anfang der 90er Jahre bezeichnete der frühere Präsident des Kosovo, Ibrahim Rugova, in einem Interview für die deutschen Medien schon die Unabhängigkeit als Kompromiss. Nach dem Ende des Krieges hatten wir einen zweiten Kompromiss: den Ahtisaari-Plan, der sehr viele Mängel aufweist und uns noch heute daran hindert, einen demokratischen Staat aufzubauen. Jetzt verlangt Serbien einen neuen Kompromiss. Das ist eine Taktik nach dem Motto: Nimm, was geht und bleib unzufrieden, damit du noch mehr bekommst.
Das heißt, mit Ihnen wird es keine Grenzänderungen geben?
Die Grenzen des Kosovo können nicht geändert werden. Der Kosovo war ein Bestandteil der Jugoslawischen Föderation. Ungefähr 110 Staaten haben uns in diesen Grenzen anerkannt, einschließlich der USA und Deutschlands, und wir haben kein Territorium, das wir Serbien geben könnten. Die Grundlage des künftigen Abkommens zwischen dem Kosovo und Serbien kann nicht die territoriale Entschädigung Serbiens als Trost für ein verlorenes Kosovo sein, sondern das Leben der Bürger, die praktischen Bedürfnisse und die Menschenrechte und das Leiden, das wir gerade unter einem Staat wie Serbien erlitten haben, der sich mit seiner Vergangenheit nicht auseinandergesetzt hat.
Anderseits gelten Sie sehr oft als die Person, die die Grenzen des Kosovo in Frage gestellt hat und sich am meisten für eine Vereinigung der albanischen Gebiete ausspricht. Dadurch werden Sie in vielen westlichen und europäischen Medien auch als Ultranationalist wahrgenommen. Wie kann man diese Haltung mit dem, was Sie gerade sagten, vereinbaren?
Die Grenze zu Serbien ist nicht gleichzusetzen mit der Grenze zu Albanien. Die Grenze zwischen Kosovo und Albanien ist keine albanische Grenze, sie ist eine serbische und eine jugoslawische Grenze. Ich sehe die Annäherung, Integration und Vereinigung mit Albanien - eines Tages, in der Zukunft - nicht als Ergebnis des Scheiterns des Staates Kosovo, sondern durch seinen Erfolg. Wir müssen dieses Land zuerst erfolgreich machen. Und das albanische Volk leidet immer noch unter dem Trauma der Londoner Konferenz von 1913, als der damalige britische Außenminister, Sir Edward Gray, sagte: "Wir haben den Albanern eine große Ungerechtigkeit angetan, um den Frieden in Europa aufrechtzuerhalten." Da war noch nicht mal ein Jahr vergangen, da brach der Erste Weltkrieg aus. Unsere Annäherung, Integration und Vereinigung mit Albanien wird auf keinen Fall mit nicht-friedlichen, nicht-demokratischen und verfassungswidrigen Mitteln erfolgen. Doch zunächst wollen wir den Staat Kosovo aufbauen, in dem der Schwerpunkt auf Wirtschaft und Gerechtigkeit liegt. Eine der Prioritäten wird auch der grundsätzliche Dialog mit Serbien sein, aber dieser wird nicht unsere Priorität sein. Schwerpunkte werden Gerechtigkeit und Beschäftigung sein.