Allein und minderjährig in der Fremde
23. August 2013Sie kommen aus Afghanistan, Pakistan, Syrien und Somalia – und sie sind allein: Kinder und Jugendliche, geflohen aus ihrer Heimat, aufgegriffen bei ihrer illegalen Einreise nach Deutschland. Ihr Status: "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge". Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im vergangenen Jahr 2096 registriert, Tendenz steigend. Manche haben ihre Eltern im Krieg verloren, andere wurden weggeschickt in der Hoffnung, dass sie in der Fremde erfolgreich sind und ihre Eltern und Geschwister dann finanziell unterstützen können.
Doch zunächst müssen sie mit einer extrem schwierigen Situation fertigwerden: Sie trauern womöglich um ihre getöteten Familienangehörigen, sind in einer für sie völlig fremden Kultur, beherrschen die Sprache nicht und kennen sich nicht aus. Bei der Bewältigung dieser Probleme helfen ihnen die Jugendämter und Wohlfahrtsverbände. Stellt ein Familiengericht fest, dass der Flüchtling minderjährig ist, hat er automatisch ein Anrecht auf Jugendhilfe. Das bedeutet: Die Kinder und Jugendlichen wohnen maximal zu zweit in einem Zimmer, erhalten regelmäßige Mahlzeiten, werden bei der Suche nach einer Schule unterstützt und von Sozialarbeitern betreut und erhalten Angebote zur Freizeitgestaltung.
Am Alter hängt alles
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, das genaue Alter der Flüchtlinge festzustellen. Werden sie als "nicht minderjährig" eingestuft, fallen alle Privilegien der Jugendhilfe weg und sie werden wie erwachsene Asylbewerber behandelt.
Bei vielen ist allerdings das Geburtsdatum nicht eindeutig belegt, weil sie keine Geburtsurkunde vorweisen können. In diesem Fall wird per Schätzung oder mittels medizinischer Tests das Alter bestimmt, unter anderem durch Röntgenaufnahmen der Kiefer oder der Handwurzelknochen.
Ein höchst umstrittenes Verfahren, sagt Zübeyde Duyar vom AK Asyl in Bielefeld, einem Verein zur Unterstützung von Flüchtlingen: "Sogar der Ärztebund ist dagegen, dass sich Ärzte an dem Verfahren beteiligen, weil es weder der Verhinderung noch der Therapie einer Erkrankung dient. Außerdem kommen dabei Röntgenstrahlen zum Einsatz, die ja sogar gefährlich sein können."
Falsches Ergebnis mit Langzeitwirkung
Die Rechtsanwältin weist außerdem darauf hin, dass das Verfahren sehr ungenau ist. Die Ergebnisse könnten um drei bis sechs Jahre schwanken. Und weil die offiziellen Behörden ein Interesse daran hätten, so wenig Flüchtlinge wie möglich in die viel kostenintensivere Jugendhilfe kommen zu lassen, sei das Ergebnis in vielen Fällen schon klar, sagt Zübeyde Duyar: "Ein 17-Jähriger hat von vornherein kaum eine Chance auf Anerkennung als Minderjähriger."
Die zuständigen Familiengerichte, das zeige die Erfahrung in Bielefeld und anderen deutschen Städten, übernähmen diese Altersschätzungen dann. Wer einmal als volljährig bezeichnet wurde, der bleibt es für die Behörden auch; einen Gegenbeweis zu erbringen, sei äußerst schwierig. Die Chancen auf Jugendhilfe tendierten dann gegen Null, so Duyar.
Persönlicher Kontakt
Seit dem 1. Juni bietet der AK Asyl in Bielefeld eine spezielle Beratung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge an. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begleiten die Kinder und Jugendlichen durch den sogenannten Clearing-Prozess, in dem festgestellt wird, ob Anspruch auf Jugendhilfe besteht oder nicht. Besonders wichtig sei dabei der persönliche Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen, die von den Erlebnissen in ihrer Heimat oder auf der Flucht schwer traumatisiert sind, sagt Zübeyde Duyar. So berichtet sie von Kindern aus Afghanistan, die von den Taliban zwangsrekrutiert wurden und zu Selbstmordattentätern ausgebildet werden sollten, ehe ihnen die Flucht gelang.
Die Schicksale der Kinder und Jugendlichen werden in langen Einzelgesprächen aufgearbeitet. Sie haben Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich auf die Verhandlung vor dem Familiengericht vorzubereiten und ihre Argumente zu sortieren. Der AK Asyl und andere Hilfseinrichtungen organisieren für jeden Flüchtling einen Anwalt, damit sie sich nicht im Paragrafendschungel verheddern.
Bayerischer Sonderweg
Die Jugendhilfe ist sehr personalintensiv, wird jedoch bundesweit allen minderjährigen Flüchtlingen gewährt. Nur die bayerischen Behörden pflegen ein deutlich strengeres Vorgehen: Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge werden nach ihrer Ankunft in vier Kategorien eingestuft. Je nach Gutdünken der Verantwortlichen werden dann manche 16-18-Jährige in "Stufe 3" eingeordnet und verlieren den Anspruch auf Jugendhilfe und die damit verbundenen Betreuungsangebote, während andere Gleichaltrige als "Stufe 2" in den Genuss der besseren Betreuung kommen.
Ilona Christl von der Arbeiterwohlfahrt ist als Teilzeitkraft die einzige Betreuerin für mehr als 20 "Stufe 3-Flüchtlinge" in Nürnberg. Das bedeutet, von Donnerstagabend bis Montagfrüh sind die 16-18-Jährigen, viele von ihnen aus islamischen Ländern, auf sich alleingestellt. Die Folgen können fatal sein, sagt sie: "Es sind Jugendliche, die mit Alkohol keine Erfahrung haben, die mit Frauen-Gleichberechtigung keine Erfahrung haben. Wenn sie auf der Flucht kein Trauma erlebt haben, dann erleben sie auf jeden Fall hier einen Kulturschock." Und damit allein klarzukommen, das sei sehr schwierig, so Christl.
Bürokratie als Motivationsbremse
Hinzu kommen weitere massive bürokratische Hürden, beklagt Andreas Meißner von Evin e.V. aus Berlin. Seine Einrichtung betreut viele Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge ohne Bezugsperson nach Deutschland gekommen sind. Viele erlebt er als sehr motiviert: "Sie sagen 'Ich möchte etwas Gutes aus meinem Leben machen, vielleicht auch wieder zurückgehen, aber wenn, dann mit einer guten Ausbildung oder mit irgendwelchen Perspektiven.'"
Umso mehr ärgert er sich, dass die offiziellen Stellen den jungen Menschen den Schwung nehmen: Der ungeklärte Aufenthaltsstatus, die lange Verfahrensdauer und vor allem immer wieder der von den Behörden geäußerte Vorwurf, sie wollten nur Sozialleistungen erschleichen, nage am Selbstbewusstsein der Flüchtlinge: "Viele lernen sehr schnell die Sprache, fügen sich sehr schnell in die Gesellschaft ein, könnten locker eine Ausbildung machen oder studieren. Und die werden durch bürokratische Hindernisse immer wieder ausgebremst. Das ist frustrierend."
Es sind die Erfolgsgeschichten von ehemaligen minderjährigen Flüchtlingen, die ohne Geld und Begleitperson nach Deutschland kamen und trotzdem erfolgreich die Schule, das Studium oder eine Ausbildung abgeschlossen haben, die das beste Argument für eine noch bessere Betreuung sind, sagt Andreas Meißner: "Ohne Unterstützung durch Sozialarbeiter, Anwälte, Lehrerinnen, Lehrer, ehrenamtliche Vormünder, Sportvereine hätten wir das, so sagen es fast alle, nicht geschafft."