Allein und unerwünscht
14. Juni 2013Am Anfang von "On The Run" bleibt die Leinwand leer. Nur Stimmen sind zu hören. Berichte eines Anwalts, eines Flüchtlingsexperten und eines Mitarbeiters vom Jugendamt. In lakonischem Tonfall erzählen sie von den Prozeduren, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Deutschland über sich ergehen lassen müssen. In der darauf folgenden Filmszene sitzen Jugendliche auf einem kleinen Schlauchboot in einer Kölner Fußgängerzone. Sie stellen eine Fluchtszene nach und paddeln scheinbar um ihr Leben – ignoriert von den Passanten.
Ungeschönte Erlebnisberichte
Mehrdad Razi und Arjang Omrani haben mit "On The Run" einen außergewöhnlichen Dokumentarfilm geschaffen. Vermutlich den ersten, der bis auf den Prolog ausschließlich von Flüchtlingen selbst erzählt wird. In intensiven Einzelgesprächen haben die beiden in Köln lebenden Iraner die Jugendlichen befragt und gemeinsam mit ihnen in Workshops eine passende Bildsprache erarbeitet. Razi, Musiker und Pädagoge, erklärt den Ansatz des Films so: "Wir glauben daran, dass man nicht über die Minderjährigen, sondern mit ihnen sprechen soll." Und Regisseur Omrani ergänzt: "Die Jugendlichen selbst haben entschieden, was sie uns und anderen mitteilen wollen.“
Laut Schätzungen des Bundesfachverbandes für minderjährige Flüchtlinge e.V. leben zwischen 8000 und 9000 Kinder und Jugendliche in Deutschland, die alleine aus ihren Heimatländern geflohen sind. Einige haben ihre Eltern verloren, bei anderen konnten ihre Angehörigen nicht mehr für ihre Sicherheit oder ihr Wohlergehen sorgen und mussten sie fortschicken. Ein Großteil von ihnen stammt aus Afghanistan und dem Iran. Wenn sie es bis nach Deutschland schaffen, haben sie gewaltige Anstrengungen hinter sich. Sie haben beim Überqueren von Grenzflüssen oder in LKW-Ladungen versteckt ihr Leben riskiert. Viele der Kinder sterben oder bleiben auf der Flucht zurück. Auch davon erzählt "On The Run" in eindringlichen Bildern. Die nachgestellten Fluchtszenen haben Razi und Omrani mit deutschen Jugendlichen in Fußgängerzonen und auf öffentlichen Plätzen gedreht. Sie haben dieses ungewöhnliche Stilmittel gewählt, um zu zeigen, was an den Grenzen um den wohlhabenden Teil Europas geschieht, während die Leute hierzulande dem Shopping nachgehen.
Gesundheitsgefährdende Verfahren
Doch mehr noch als die Schrecken einer illegalen Flucht steht etwas ganz anderes im Mittelpunkt des Films: die Erlebnisse der Kinder in Deutschland, besonders die umstrittenen Altersprüfungen. Solange die Jugendlichen unter 18 sind, genießen sie dank der UN-Kinderrechtskonvention besonderen Schutz. In Deutschland bedeutet das unter anderem, dass sie schulpflichtig sind und mit Gleichaltrigen in Heimen untergebracht werden. In Jugendheimen, nicht in Asylbewerberwohnheimen, "in denen ja niemand leben will", wie einer von ihnen erzählt. Sind sie hingegen über 18, droht ihnen oft die Abschiebung. Aus Angst davor behauptet ein Teil der über 18-Jährigen, minderjährig zu sein.
Bestehen Zweifel am Alter eines UMF, kann das Jugendamt eine Altersprüfung in Auftrag geben. Zu diesem Zweck werden Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen gemacht. Ein Verfahren, das laut Beschlüssen des Deutschen Ärztetages "wissenschaftlich höchst umstritten" und mit dem Berufsrecht der Mediziner "nicht vereinbar" ist. Für viele von ihnen stellt eine Röntgenuntersuchung ohne medizinische Indikation sogar eine Körperverletzung dar. Ein weiteres Verfahren ist die Untersuchung der Geschlechtsorgane. Seine Treffsicherheit ist höchst zweifelhaft, dennoch wird es immer wieder angewandt. Dabei werden die größtenteils muslimischen Kinder oft von Ärzten des jeweils anderen Geschlechts untersucht. Auch davon erzählt "On The Run". Die Scham der Kinder ist entsprechend groß, etwaige Folgen für ihre psychische Gesundheit werden in Kauf genommen.
Kritik seitens der Flüchtlingshelfer
Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Fördervereins Kölner Flüchtlingsrat e.V., bezeichnet die Altersuntersuchungen als unmenschlich und skandalös und fügt hinzu: "Die betroffenen Jugendlichen werden diese Behandlung nie vergessen." Flüchtlingsexperten fordern schon seit langem Alternativen zur Röntgen- und Genitaluntersuchung, doch die Verfahren werden weiter durchgeführt. Die Heimplätze für UMF kosten Geld, daher haben die Behörden ein großes Interesse daran, ihre Zahl möglichst niedrig zu halten.
Der stellvertretende Amtsleiter des Jugendamts Köln, Klaus-Peter Völlmecke, hält die Altersprüfungen für unabdingbar: "In den Fällen, wo wir Zweifel an der Minderjährigkeit haben, wollen wir eine Altersfeststellung. Das ist für uns auch eine Frage von Gleichheit. Manche, die behaupten, minderjährig zu sein, sind bis zu 26 Jahre alt." Die jungen Erwachsenen hätten einen anderen Anspruch an das Leben. Man könne sie nicht mit Kindern in ein Jugendheim stecken, "das geht nicht gut, auch nicht für die Kinder." Auf alternative Methoden der Altersfeststellung angesprochen, entgegnet Völlmecke: "Je weniger Sie auf intensive Methoden setzen, umso ungenauer wird das Ergebnis. Wir sind gerade dabei, uns mit Kliniken in Verbindung zu setzen, die zumindest auf die Röntgenuntersuchung verzichten. Alles andere halten wir für unerlässlich, um größtmögliche Sicherheit zu haben."
Das Gefühl, unerwünscht zu sein
Mindestens ebenso belastend wie die Untersuchungen zur Altersprüfung ist für die Jugendlichen das ständige Gefühl, unerwünscht zu sein und sich für ihre Anwesenheit schuldig zu fühlen. Wie sehr das Misstrauen seitens vieler Deutscher die Kinder verletzt, bringt die Aussage eines Mädchens im Film auf den Punkt: "Man verlässt sein Land nicht, wenn man ein kleines Problem hat." Und Hussein, ein Flüchtling aus Afghanistan, ruft beim Filmgespräch nach der Premiere als Erstes aus: "Viele von uns sind wirklich unter 18!". Auf die Frage, was er von dem Film hält, antwortet er: "Ich habe immer versucht, meinen Freunden zu erzählen, was ich erlebt habe. Jetzt haben sie es verstanden. Sie haben es mit eigenen Augen gesehen."
Mehrdad Razi und Arjang Omrani hoffen, dass ihr Film einen Beitrag zum Verständnis der UMF leisten wird. "Die UMF sind in einer sehr schwierigen Lage", so Omrani. Dazu kämen viele bürokratische Hindernisse, die sicher verbessert werden könnten. Dabei sei es gar nicht so schwer, mehr über die Situation dieser Jugendlichen zu erfahren. "Wir haben es ja auch geschafft", fügt er hinzu.