Alternativlos: das Unwort des Jahres 2010
18. Januar 2011Wohlklingende Worte hört Horst Dieter Schlosser immer wieder gerne. Kein Wunder, schließlich war er bis 2002 Linguistikprofessor in Frankfurt. In seiner Freizeit aber beschäftigt sich der 73-jährige Wissenschaftler seit Jahren am liebsten mit sprachlichen Missgriffen. Worten, die zynisch, menschenverachtend oder bewusst verharmlosend sind und die besonders häufig in der Politik und Wirtschaft vorkommen.
So wie der Begriff "alternativlos", den Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf die Griechenlandhilfe benutzt hatte, als es darum ging, ob und wie die EU-Länder finanzielle Hilfestellung leisten sollen. Politiker benutzten die Floskel aber auch in vielen anderen Zusammenhängen. "Die Menschen haben sich zu Recht darüber aufgeregt", sagt Schlosser. "Denn damit wird ja unterstellt, es gebe keine andere Wahl als die Entscheidung, die die Politiker gefällt haben, und das ist falsch."
Schwierige Entscheidung
Natürlich gilt das auch für die zahlreichen Unwort-Vorschläge, aus denen die Jury ihre Wahl treffen musste. Diesmal sei es besonders schwierig gewesen, gibt Schlosser zu. Es gab 1132 Zuschriften mit insgesamt 624 Vorschlägen, darunter auch Begriffe wie "Wutbürger", mit denen Bürger bezeichnet wurden, die gegen ein großes Bahnhofsprojekt in Stuttgart protestierten, oder "Integrationsverweigerer", ein Begriff, der Migranten unterstellt, sich aktiv gegen die Eingliederung in die Gesellschaft zu wehren. Der Begriff "alternativlos" aber sei von Politikern im letzten Jahr so inflationär gebraucht worden, dass die Jury sich letztlich auf dieses Unwort geeinigt habe, so Schlosser.
Der Germanist ist seit 1991 der Kopf der Aktion, die er eher "unfreiwillig" ins Leben rief, wie er sagt. Auf einer Podiumsdiskussion habe er damals launisch vorgeschlagen, ein "Unwort des Jahres" einzuführen – und sei sofort vom Publikum beim Wort genommen worden. Er suchte sich eine kleine Jury aus Sprachwissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern zusammen und wählte aus den eingereichten Vorschlägen die fremdenfeindliche Parole "ausländerfrei". Das erste Unwort des Jahres war geboren, ein Begriff, der im Zusammenhang mit rechtsextremen Krawallen im sächsischen Hoyerswerda gefallen war.
Kleine Worte, große Wirkung
Auch heute noch arbeitet Schlosser mit einer sechsköpfigen Jury zusammen. Jeder der sechs Juroren erhält eine Liste mit den Vorschlägen der Bürger – im Schnitt sind es pro Jahr 1.700 Zuschriften – und darf daraus sechs Favoriten bestimmen. Anfang des Jahres wird dann über die Unwörter debattiert. Meist nur zwei Stunden, dann steht das neue Unwort fest.
Egal auf welche Bezeichnung sich die Juroren einigen, sie können sich sicher sein, dass ihre Wahl eine große Wirkung hat. "Fast alle deutschen Medien kommentieren den Begriff und die zur Auswahl stehenden Unwörter", betont der Sprachwissenschaftler. "Und häufig bekommen wir anschließend Ärger mit denjenigen, denen diese Unwörter zugeschrieben wurden." So habe das Bundeskanzleramt ein ganzes Jahr lang "aus allen Rohren geschossen", so Schlosser, als der Begriff "kollektiver Freizeitpark" des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl auf die Liste gesetzt worden sei. Kohl warf den deutschen Bürgern damals vor, sie würden weniger arbeiten und mehr Freizeit haben wollen als andere Nationen.
Der SPD-Politiker Otto Schily drohte den Juroren laut Schlosser gar ein Strafgeld von 10.000 Euro an, weil sie ihn als Verfasser des Unwortes "Begrüßungszentren" für Flüchtlings-Auffanglager bezeichnet hatten. Es blieb aber bei der Drohung. "Zum Glück war ich als Professor immer unabhängig", sagt Schlosser, "so konnte ich gelassen auf die Kritik aus Politik und Wirtschaft reagieren."
Sprachkritik als Bürgerrecht
Dem Wissenschaftler machen die teils heftigen Diskussionen über die Unwörter Spaß. Dafür sitzt er auch gerne nächtelang über den vielen Zuschriften. 2010 gab es allerdings weniger Zuschriften als in den letzten Jahren, was ihm etwas Sorgen macht. "Ich hoffe nicht, dass unsere Aktion erste Lähmungserscheinungen zeigt." Bürger zeigten damit klar, das sie ernst genommen und ehrlich behandelt werden wollten. Für Schloser ist das "Unwort des Jahres" daher ein wichtiger Bestandteil der Demokratie.
Und es hat auch schon Erfolge gegeben. Etwa wenn es um das Thema "Diäten" geht. Seit "Diätenanpassung" zum Unwort des Jahres 1995 gewählt worden sei, werde der Begriff kaum noch verwendet, stattdessen sei offen von einer "Diätenerhöhung" die Rede – so die Beobachtung Schlossers. Kein Wunder also, dass der emeritierte Professor mit der sprachlichen "Detektivarbeit" gerne weitermachen möchte. Allerdings nicht als Chef: Ende des Jahres, so verrät er, wird Nina Janich von der Technischen Universität Darmstadt neue "Meisterin der Unwörter".
Autorin: Sabine Damaschke
Redaktion: Petra Lambeck