Ampel im Krisenmodus
8. Dezember 2022Der Bundeskanzler ist mit sich im Reinen. Nüchtern und sachlich verkündete er in seinem jüngsten Videopodcast, was seine Regierung im ersten Amtsjahr geschafft habe: Die Ukraine humanitär, finanziell und mit Waffen zu unterstützen. Die Energieversorgung zu sichern und den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzlich voranzutreiben. Die Bürger wegen der stark gestiegenen Preise finanziell zu entlasten, den Mindestlohn zu erhöhen und bessere Sozialleistungen durchzusetzen.
Des Kanzlers Formulierungen: "haben wir dafür gesorgt - machen wir möglich - tragen wir Sorge - legen wir die Grundlage". Die Botschaft zwischen den Zeilen: Wir haben die Lage im Griff - trotz existenzieller Krisen, wie sie so und in dieser Häufung noch keine Bundesregierung zuvor bewältigen musste. Müsste Olaf Scholz der "Ampel-Koalition", wie das Bündnis von SPD, Grünen und FDP nach ihren Parteifarben genannt wird, eine Schulnote geben, würde sie sicherlich nicht schlecht ausfallen.
Unzufriedene Wähler
Viele Bürger sehen das etwas anders. Seit einigen Monaten schon hat die Ampel-Koalition in Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr. Parallel dazu ist die Unzufriedenheit mit der Regierung gestiegen. Nur noch eine Minderheit ist der Meinung, dass die Koalition ihre Arbeit gut macht.
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch will so hart nicht urteilen. "Ich gebe der Ampelregierung die Note befriedigend", sagt die Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnberger See der DW. Die Aufgaben seien groß und schwierig gewesen. Anstatt den Koalitionsvertrag einfach abzuarbeiten, habe die Ampel flexibel reagiert und sei von "so manchem politischen Glaubenssatz" abgerückt.
Regieren in der "Zeitenwende"
Angetreten war das Dreiparteienbündnis am 8. Dezember 2021 als "Fortschrittskoalition". Versprochen wurde, alle Kraft in die Modernisierung des Landes zu stecken, Deutschland sollte klimaneutraler, digitalisierter und schneller werden. Im Koalitionsvertrag waren die dafür nötigen Vorhaben Punkt für Punkt festgehalten.
Nur zweieinhalb Monate später war die Welt eine andere. Russland überfiel die Ukraine und zwang die Welt in eine "Zeitenwende", wie sie der Kanzler im Bundestag nannte. Die unmittelbare Konsequenz: Scholz kündigte 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an und Beistand für die Ukraine.
Der lavierende Kanzler
Der Bruch mit der bisherigen deutsche Staatsdoktrin, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, traf SPD und Grüne ins Mark. Sie mussten dafür von ihren grundsätzlich pazifistischen Überzeugungen abrücken. Den Grünen gelang das sichtbar besser, sie gehören inzwischen zu den nachdrücklichsten Verfechtern von Waffenlieferungen in die Ukraine. Der SPD und Kanzler Scholz wurde hingegen lange vorgeworfen, zu zögerlich sein.
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht das nicht so. "Es ist richtig gewesen, nach einer Balance zwischen der Unterstützung für die Ukraine und der Sorge vor einer Ausweitung des Kriegs zu suchen." Unerfreulich sei, dass sowohl die europäischen Partner der Bundesrepublik als auch die USA nach wie vor unsicher seien, "welche Strategie der Bundeskanzler eigentlich betreibt".
Kein Gas mehr aus Russland
Die russische Reaktion auf die Unterstützung der Ukraine ließ nicht lange auf sich warten. Stück für Stück wurde dem hochgradig von russischen Gaslieferungen abhängigen Deutschland der Gashahn zugedreht, um das Land unter Druck zu setzen. Die Energiepreise explodierten und lösten die höchste Inflation seit Jahrzehnten aus.
Die dramatischen Folgen für den Staat, für Wirtschaft und Bürger bestimmen seitdem das Handeln der Regierung. Drei Entlastungspakete im Gesamtvolumen von rund 100 Milliarden Euro wurden auf den Weg gebracht. Dazu kommt ein 200 Milliarden Euro schwerer wirtschaftlicher "Abwehrschirm" mit einer Gas-, Wärme- und Strompreisbremse. Nicht zu vergessen die Mittel für Unternehmen, die von den Sanktionen oder dem Kriegsgeschehen betroffen sind, und für die Unterbringung und Versorgung von rund einer Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die Deutschland inzwischen aufgenommen hat.
Vom "Wumms" zum "Doppel-Wumms"
Rechnet man alle Schulden zusammen, die die Koalition in ihrem ersten Amtsjahr machen musste, kommen rund 500 Milliarden Euro zusammen. Kanzler Scholz prägte dafür den Begriff "Doppel-Wumms", angelehnt an den "Wumms", mit dem er 2020 als Finanzminister die Corona-Hilfen verkündet hatte. Der stets nüchterne Scholz, dem Emotionales nicht liegt, braucht solche wuchtigen Formulierungen und Wort-Ungetüme, um Dramatik zu verdeutlichen.
Wegen der angespannten Finanzlage mussten zahlreiche Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag vertagt werden. Alle drei Partner hätten dennoch einen Teil ihrer Anliegen durchsetzen können, sagt Politikwissenschaftlerin Münch. Vor allem die SPD mit dem sogenannten Bürgergeld, der ausgeweiteten sozialen Grundsicherung, und dem gestiegenen Mindestlohn. "Die Grünen können darauf verweisen, dass sie am Ausstieg aus der Kernenergie festhalten - das kommt aber nur bei den eigenen Anhängern an, nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung."
Die FDP, angetreten, um die öffentlichen Finanzen zu sanieren, habe es schwerer, Profil zu zeigen: "Ein solider Haushalt ist durch die Krise in weiter Ferne, und für die Infrastrukturvorhaben sind Jahre erforderlich", so die Professorin.
Der Kanzler musste auch mal eingreifen
Nach Ansicht von Münch hätte die Ampel angesichts der enormen Herausforderungen allerdings "noch mehr ihrer früheren Glaubenssätze über Bord werfen" müssen. "Die Regierung hat sich meines Erachtens recht oft in Grundsatzstreitigkeiten verloren." Bei der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke gingen diese so weit, dass der Kanzler ein Machtwort sprechen musste.
Dabei war Streit doch etwas, das die Ampel unbedingt vermeiden wollte. Auch wenn sich mit SPD, Grünen und FDP drei Partner mit recht diversen politischen Überzeugungen gefunden hatten, gab man sich das Versprechen, Unterschiede zum Wohl des gemeinsamen Ziels hintenan zu stellen. Und nicht schlecht übereinander zu sprechen - vor allem nicht öffentlich.
Missgunst in der Koalition
Das funktionierte immer dann nicht, wenn eine Partei das Gefühl hatte, ins Hintertreffen zu geraten. Als die Grünen im Sommer in Umfragen vor der SPD und die Sympathiewerte für den grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck weit vor denen des Sozialdemokraten Scholz lagen, stichelte es aus den Reihen der SPD: "Das Prinzip Habeck geht so: Auftritte filmreif, handwerkliche Umsetzung bedenklich und am Ende zahlt der Bürger drauf."
Aus den Reihen der Grünen wurde gekontert, die "schlechte Performance des Bundeskanzlers, seine miesen Umfragewerte" würden durch "unloyales Verhalten und Missgunst in der Koalition nicht geheilt" werden.
Zeitenwende - auch ökonomisch
Es war die Zeit, in der die Energiepreise explodierten und klar wurde, dass es ohne massive Finanzhilfen des Staats nicht gehen würde. Die Gas- und Strompreisbremse ist für Politikwissenschaftlerin Ursula Münch allerdings keine gute Lösung. "Die Energiekosten werden stark und aufwendig subventioniert, aber gleichzeitig tut man zu wenig, um das Angebot an verfügbarer klimafreundlicher Energie zu erhöhen."
Ohnehin müsse sich die Koalition für die Zukunft etwas anderes einfallen lassen, als immer mehr Geld auszugeben. "Krisen und die Ängste in der Bevölkerung vor Inflation werden künftig nicht nur mit kostenträchtigen Transferleistungen bewältigt werden können."
2023 könnte es noch schwieriger werden
Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner will im kommenden Jahr wieder solider haushalten und die Schuldenbremse einhalten. Ob das funktionieren kann? Die Energieknappheit wird bleiben. Wenn im Frühjahr die Gasspeicher geleert sind, müssen Wege gefunden werden, sie bis zum Spätherbst wieder zu füllen. Eine Herkulesaufgabe ohne die Gas-Lieferungen aus Russland.
Die Inflation wird absehbar hoch bleiben, der Wirtschaft steht eine Rezession bevor. Die Bundesregierung wird in ihrem zweiten Amtsjahr möglicherweise noch viel mehr gefordert sein als im ersten. Für den Kanzler heißt das, dass er seine Koalition zusammen und auf Kurs halten muss. Keine leichte Aufgabe. Olaf Scholz wird sie wahrscheinlich so angehen, wie er es in seiner jahrzehntelangen politischen Laufbahn immer getan hat: Unbeirrt, stoisch und manchmal auch ein wenig stur.