Angela Merkel denkt nicht an Rücktritt
20. November 2017Den ganzen Tag über schwieg die geschäftsführende Kanzlerin. Erst am Abend stand Angela Merkel in zwei Fernsehinterviews öffentlich Rede und Antwort. Wer nach dem überraschenden Aus für die Jamaika-Sondierungen eine zerknirschte CDU-Vorsitzende erwartet hatte, der wurde allerdings enttäuscht. "Nein", antwortete sie im ZDF auf die Frage, ob sie persönlich Fehler in den Gesprächen mit CSU, FDP und Grünen gemacht habe. "Ich habe das getan, was ich konnte, und wie gesagt, wir waren auch wirklich vorangekommen."
Da erscheint es nur logisch, dass Merkel offenbar auch keinen Gedanken an einen Rücktritt verschwendet hat. "Nein, das stand nicht im Raum. Ich glaube, Deutschland braucht nun Stabilität", so die Regierungschefin. In der ARD betonte sie, falls es zu Neuwahlen kommen sollte, sei sie bereit, ihre Partei erneut in den Wahlkampf zu führen. Sie sei "eine Frau, die Verantwortung hat und auch bereit ist, weiter Verantwortung zu übernehmen".
Beratungen im Schloss Bellevue
Am Mittag hatte die Kanzlerin mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beraten, wie es nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen nun weitergehen kann. Die Situation ist neu für Merkel, die erfahrene Regierungschefin: In ihren drei zurückliegenden Amtszeiten hatte sie ohne größere Verrenkungen eine stabile Regierung bilden können, zweimal mit den Sozialdemokraten und einmal mit den Freien Demokraten. Doch nun steht Deutschland acht Wochen nach der Wahl immer noch ohne neue Regierung da. Die Stimmung in Berlin ist auf dem Tiefpunkt.
Merkel versteht sich auf das Herausarbeiten von Kompromissen, doch diesmal nützten ihr weder ihr Verhandlungsgeschick noch ihr Wille, Deutschland weitere vier Jahre zu regieren: Gegen Mitternacht hatte die FDP die Sondierungsgespräche abgebrochen, weil sie keine Basis für eine Jamaika-Koalition mit CDU, CSU und Grünen sah. Die FDP-Unterhändler seien einfach aufgestanden und hätten ohne ein Wort den Raum verlassen, berichten Augenzeugen, dabei sei man inhaltlich einer Lösung nahe gewesen. Doch der FDP fehlte nach eigenem Bekunden das gegenseitige Vertrauen.
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Verblüffung bei den anderen
"Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", erklärte FDP-Chef Christian Lindner später vor der Tür. Dass er sein Statement von einem bedruckten Blatt ablas, wurde als Beleg dafür gewertet, dass der Abbruch der vierwöchigen Sondierungsgespräche keine spontane Entscheidung war. Die FDP wird später betonen, dass nicht nur die Vertrauensbasis fehlte, sondern auch die inhaltlichen Differenzen zu groß gewesen seien.
Der Paukenschlag der FDP muss auch die CDU-Vorsitzende Merkel verblüfft und enttäuscht haben. Ist das Scheitern der Jamaika-Sondierungen auch ihr Scheitern? Ist es der Anfang vom Ende ihrer Kanzlerschaft? Demonstrativ stellen sich die Unterhändler von CDU und CSU hinter sie, es gibt Lob und spontanen Beifall für sie. Kritik aus den eigenen Reihen wird nicht laut, aber dennoch wird die Luft dünner für Merkel: Am Ende wird es auch an ihr hängenbleiben, dass sie die ungleichen Verhandlungspartner nicht zusammenbringen konnte. Nun sucht Merkel, die als Kanzlerin nur noch geschäftsführend im Amt ist, nach einem Ausweg aus der Sackgasse. Zunächst ruft sie den Bundespräsidenten an und verabredet sich mit ihm zu einem Gespräch im Schloss Bellevue.
Steinmeier mahnt
Frank-Walter Steinmeier und sie kennen sich gut aus langen Jahren der gemeinsamen Regierung. Der Bundespräsident hält nichts davon, nun überstürzt Neuwahlen herbeizuführen, wobei ihm qua Verfassung eine entscheidende Rolle zukäme. Stattdessen appelliert er an alle Parteien, inne zu halten und ihre Haltung zu überdenken. "Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen", sagt er nach dem Gespräch mit Merkel in die Kameras. In den kommenden Tagen will Steinmeier die Vorsitzenden der anderen Parteien treffen und ihnen ins Gewissen reden. "Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält."
Dieser Appell richtet sich auch an die SPD, die zusammen mit CDU und CSU eine komfortable Mehrheit im Bundestag hätte. Würden die Sozialdemokraten bei ihrer Haltung bleiben, dass für sie einzig und allein die Opposition infrage kommt? Alle Augen richten sich auf die SPD, deren Vorstand den ganzen Vormittag über im Willy-Brandt-Haus getagt hat. Doch die Sozialdemokraten verweigern sich weiterhin einer Regierungsbeteiligung. Das Ergebnis der Bundestagswahl sei eine "rote Karte" für Union und Sozialdemokraten gewesen, sagt der ernst dreinblickende SPD-Chef Martin Schulz, "eine eindeutige Absage an die Fortsetzung der großen Koalition". Schulz plädiert stattdessen für Neuwahlen: "In einer solchen Situation muss der Souverän, das sind die Wählerinnen und Wähler, neu bewerten, was Sache ist."
Nachdem sie mit 20,5 Prozent der Stimmen ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt hat, erhofft sich die SPD von Neuwahlen einen Stimmenzuwachs. Mit Kritik an Frau Merkel sparen die Sozialdemokraten nicht: "Ihre Politik, ihr Stil des Moderierens, Zuwartens, keine Richtung und kein Ziel vorzugeben, ist vor die Wand gefahren", kritisiert SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. "Oder anders ausgedrückt: Frau Merkel ist gescheitert."
Die CDU kontert
Diese Sicht der Dinge weist die Union zurück: Da die SPD selbst nicht bereit sei, Verantwortung zu übernehmen, solle sie lieber schweigen, entgegnet der Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU, Volker Kauder. Und was sagen die Grünen? Sie bedauern, dass die Sondierungen für eine Jamaika-Koalition gescheitert sind, obwohl sie inhaltlich "an die Schmerzgrenze" gegangen seien. "Das war Psychoterror ohne Ende", resümiert der Grüne Robert Habeck, der bei den vierwöchigen Sondierungen mit verhandelte. "Wir brauchen jetzt alle 'ne Therapie, glaube ich."