Angela Merkels Abschied vom Westbalkan
13. September 2021Auf den Tisch gehauen und Klartext geredet hat Angela Merkel nur einmal: Am 23. August des Jahres 2011 stand Serbiens damaliger Staatspräsident Boris Tadic mit versteinerter Miene bei der Pressekonferenz in der serbischen Hauptstadt Belgrad neben dem Gast aus Berlin. Die Kanzlerin wiederholte kühl und sachlich, was sie Tadic schon beim Vier-Augen-Gespräch hinter verschlossenen Türen gesagt hatte: Serbien müsse die Unterstützung seiner Landsleute im Norden der früheren Provinz Kosovo einstellen. Daneben müsse Belgrad grünes Licht geben für die Mitgliedschaft des inzwischen unabhängigen Staates Kosovo in internationalen Organisationen. Andernfalls werde es nichts mit dem gewünschten EU-Beitritt Serbiens.
Tadic, seine gesamte Regierung sowie die überwältigende Mehrheit der Serbinnen und Serben fühlten sich brüskiert und vor den Kopf gestoßen. Niemals werde man auf Kosovo zugunsten der EU verzichten, hieß es unisono. Und in der Tat: Das offizielle Serbien ließ Merkel in dieser Frage böse auflaufen. Eine Korrektur von Belgrads Kosovo-Politik war selbst in winzigsten Kleinigkeiten nicht auszumachen. Das hinderte die SPD allerdings nicht daran, Tadic ein Jahr später für seine angeblichen Verdienste um die "europäische Integration seines Landes" mit ihrem Preis "Roter Bock" auszuzeichnen.
Nach der Erfahrung in Belgrad änderte Merkel ihre politische Taktik. Statt auf Konfrontation setzte sie nun auf Kooperation mit den Spitzenpolitikern nicht nur Serbiens. Die führenden Akteure im oft als gescheitert bezeichneten Staat Bosnien und Herzegowina wurden einzeln im Kanzleramt in Berlin empfangen, um sie zum Einlenken in den vielen Streitfragen zu bewegen. Aber auch diese Gesten blieben ohne politische Ergebnisse.
Zu Beginn des Jahres 2015 schickte Merkel ihren damaligen Außenminister, den heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, nach Sarajevo. Gemeinsam mit seinem britischen Amtskollegen Philip Hammond redete er den zerstrittenen Spitzenpolitikern in Bosnien ins Gewissen. Sie sollten sich schriftlich verpflichten, den Staat muslimischer Bosniaken, orthodoxer Serben und katholischer Kroaten durch Verfassungsreformen funktionsfähig zu machen. Im Gegenzug sollte das Land satte Finanzmittel erhalten, um der maroden Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Doch auch diese Initiative scheiterte.
Neuer Anlauf mit dem "Berliner Prozess"
Im Jahr zuvor hatte Merkel eine Konferenzserie der Staats- und Regierungschefs der Region ins Leben gerufen, die als "Berliner Prozess" in die Geschichte der Diplomatie eingegangen ist. Dieses Gesprächsformat brachte einige Ergebnisse: Ein regionales Jugendwerk nach deutsch-französischem Vorbild wurde gegründet und die Roaming-Gebühren zwischen den zerstrittenen Balkanstaaten wurden abgeschafft. Demgegenüber stecken die Schaffung eines gemeinsamen Marktes der Westbalkan-Länder und der Ausbau der maroden Infrastruktur noch weitgehend in den Kinderschuhen.
Dabei halten die EU und Deutschland seit vielen Jahren einige Druckmittel in den Händen, um widerspenstige Spitzenpolitiker in Südosteuropa zum Einlenken zu bewegen. Zwei Drittel ihres Handels wickelt die Region mit Westeuropa und vor allem mit Deutschland und Österreich ab. Auch die erdrückende Mehrheit der ausländischen Direktinvestitionen kommt aus Westeuropa . Hunderttausende Menschen mit südosteuropäischen Wurzeln sind dauerhaft dorthin ausgewandert - auch hier wieder vor allem nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz.
Zuckerbrot, Peitsche und Kuschelkurs
Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie der kroatische Trainerstar Miroslav Blazevic. Der schwor die Region schon vor Jahren auf ein gutes Verhältnis mit Berlin ein. Laut Blazevic leben 30 Prozent der Kroaten und 50 Prozent der Bosnier von Finanzhilfen aus Deutschland. In der Tat machen Überweisungen der Ausgewanderten überschlagsmäßig jeweils mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Westbalkan-Länder aus. Dieses Geld fließt fast ausschließlich in den Konsum und sorgt dafür, dass die wirtschaftliche und soziale Misere in Südosteuropa nicht völlig aus dem Ruder läuft.
Merkel hat auf dem westlichen Balkan bis zuletzt an ihrem Motto von "Zuckerbrot und Peitsche" festgehalten. Die eventuelle Mitgliedschaft in der EU sollte so attraktiv sein, dass die Spitzenpolitiker der Region im Gegenzug politische Zugeständnisse machen würden, um die vielen Konflikte zu lösen. Ein enger persönlicher Kuschelkurs der Kanzlerin sollte am Ende zu Ergebnissen führen.
Korrupte Strukturen und politische Partner
So wurde in der EU unter dem Einfluss Merkels großzügig über die grassierende Korruption, die Gängelung der Justiz und die Knebelung der Medien hinweggesehen. Schließlich wollte man die politischen Partner auf dem Westbalkan nicht verärgern. Serbiens aktueller Staatspräsident Aleksandar Vucic, dem nicht nur von der Opposition eine autokratische Politik zur Last gelegt wird, preist regelmäßig seine enge persönliche Freundschaft mit Merkel. Die bewirtete ihn selbst in serbischen Wahlkampfzeiten demonstrativ im Kanzleramt und machte einmal mehr deutlich, wen sie als ihren politischen Partner betrachte.
Aber selbst das jüngste EU-Mitglied Kroatien, für dessen Beitritt sich Merkel besonders stark gemacht hatte, stieß die Kanzlerin mehr als einmal vor den Kopf. Weil Zagreb Berlin trotz EU-weitem Haftbefehl die Auslieferung eines mordverdächtigen Geheimdienstoffiziers verweigerte, boykottierte die deutsche Kanzlerin 2013 demonstrativ die EU-Beitrittsfeiern. Beim Wahlkampf für das Europaparlament im Mai 2019 in der kroatischen Hauptstadt beklatschte die Kanzlerin - offensichtlich unwissend - die Musik des umstrittenen nationalistischen Sängers Marko Perkovic "Thompson" und musste nationalistische Reden über sich ergehen lassen.
In Bezug auf die EU-Integration konnte sich Angela Merkel nicht durchsetzen. Was bleibt, sind die von der scheidenden Kanzlerin mit angeschobenen massiven EU-Finanzhilfen für den Westbalkan. Erst in dieser Woche bewilligte Brüssel 14,2 Milliarden Euro, mit denen die möglichen Beitrittsländer dieser Region bis 2027 unterstützt werden sollen. Ob die Mittel angesichts der korrupten Strukturen dort tatsächlich plangemäß verwendet werden, bleibt abzuwarten. Daran wird auch Angela Merkels Abschiedsreise nach Serbien und Albanien am Montag und Dienstag (13. und 14.09.2021) nichts ändern.