Annalena Baerbock - Fehler und Feindbilder
30. Juni 2021Keine ruhige Minute mehr für Annalena Baerbock. Im April wurde die 40 Jahre alte Parteivorsitzende der Grünen zur Kanzlerkandidatin ihrer Partei für die Bundestagswahl im September ausgerufen.
Damals, vor wenigen Wochen erst, stiegen die Grünen in den Umfragen steil nach oben, teilweise erreichte die Umweltschutzpartei Werte von 28 Prozent in der Wählerzustimmung und lag damit sogar vor der Union aus CDU und CSU.
Aber seitdem ist viel passiert, fast kein Tag vergeht, ohne dass vor allem in den sozialen Netzwerken neue Geschichten, Gerüchte und Behauptungen über die in Potsdam wohnende Bundestagsabgeordnete auftauchen.
Auch deshalb sind die Umfragewerte der Grünen abgestürzt, in einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa liegt Baerbocks Partei nur noch bei 20 Prozent. Und die Grünen selbst haben auch viele Fehler gemacht.
Plagiatsjäger aus Österreich
Jüngstes Beispiel: Baerbock hat vor gut einer Woche ein Buch mit dem Titel "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" veröffentlicht. Ein Plagiatsjäger aus Österreich, Stefan Weber, behauptet nun, Baerbock habe darin aus verschiedensten Quellen abgeschrieben. Weber fand angeblich mehrere verdächtige Stellen, die etwa Veröffentlichungen der deutschen "Bundeszentrale für politische Bildung" ähneln.
Dabei erhebt das Buch gar nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit, verzichtet gänzlich auf Quellenangaben. Es ist mehr ein typisches Beispiel einer Publikation von Politikern, um eigene Thesen und die der jeweiligen Partei unter das Volk zu bringen.
Gegen den harten Plagiatsvorwurf wollen die Grünen nun juristisch vorgehen, sie sprechen gar von "Rufmord".
"Sehr schlampig" bei den Angaben im Lebenslauf
Der Streit um Baerbocks Buch ist nur der jüngste Fall einer ganzen Kette angeblicher und tatsächlicher Skandalgeschichten rund um die grüne Kandidatin. Schon bald nach Bekanntgabe ihrer Bewerbung um das Kanzleramt wurden falsche Angaben in ihrem Online-Lebenslauf bekannt. So war sie etwa in einigen renommierten Organisationen wie etwa dem "German Marshall Fund" gar nicht Mitglied, wie sie in ihrem Lebenslauf behauptet hatte.
Ein peinlicher Fehler. In einem ARD-Interview gab Baerbock zu, dass das "sehr schlampig" gewesen sei: "Ich habe da offensichtlich einen Fehler gemacht, und das tut mir sehr, sehr leid, weil es ja eigentlich in diesen Momenten um große andere Fragen gerade in unserem Land geht."
Streit um höheren Benzinpreis
Auch inhaltliche Debatten setzten der Kandidatin schwer zu. Baerbock wurde kritisiert, weil sie Kurzstreckenflüge langfristig in Frage stellte und einen höheren Benzinpreis forderte. Dabei errechnet selbst die derzeitige Regierung von CDU, CSU und SPD nach den jüngsten, verschärften Klimabeschlüssen einen höheren Benzinpreis von rund 15 Cent mehr pro Liter Benzin. Aber die hitzige Debatte konzentrierte sich ganz auf Baerbock, die eine solche Erhöhung auch ausgesprochen und gefordert hatte.
Waren das alles noch normale politische Gefechte in einem harten Wahlkampf, so fanden sich in den sozialen Medien schon bald nach Baerbocks Kandidatur schwer unter die Gürtellinie gehende Angriffe auf die Politikerin.
Angebliche Nacktfotos der jungen Annalena Baerbock tauchten auf, die allerdings schnell als Fälschungen enttarnt wurden. Ihre Eignung für höchste Staatsämter, als erst 40 Jahre alte Frau ohne Regierungserfahrung, wurde in Zweifel gestellt. Immer wieder wurde Baerbock vorgeworfen, ihre beiden Kinder zu vernachlässigen, obwohl sich der Vater schon lange um die gemeinsamen Kinder mit der vielbeschäftigten Parteichefin kümmert.
Annalena Baerbock als Projektionsfigur für Feindbilder
Der Sozialpsychologe Rolf Pohl, bis 2017 Professor an der Universität Hannover, sagt dazu im Gespräch mit der DW: "Das Auffällige ist, dass die Kampagnen bereits unmittelbar einen Tag nach ihrer Kandidatur angefangen haben. Und zwar von verschiedenen Seiten, immer wieder."
Pohls Schwerpunkt ist die Männlichkeits - und Geschlechterforschung. Er betont: "Eines der immer wiederkehrenden Merkmale sind Anspielungen auf ihren Status als Frau, auf ihr Aussehen, auf ihre Familienbetreuung. Das weist darauf hin, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für viele immer noch Aufgabe der Frau sein soll. Annalena Baerbock ist im Prinzip eine Projektionsfläche für verschiedene Feindbildkonstruktionen. Teilweise sogar mit antisemitischem Hintergrund."
So zeigen einige Bilder im Netz Baerbock zusammen mit dem bekannten, aus Ungarn stammenden US-amerikanischen Investor George Soros, der vor allem in seiner Heimat immer wieder Opfer antisemitischer Hetze ist. Tenor: Baerbock wird von Soros bezahlt, um in Deutschland die Macht zu übernehmen. Auch ein Bundestagsabgeordneter der rechtpopulistischen "Alternative für Deutschland" (AfD) postete entsprechende Meldungen. Tatsächlich hatte der Investor der Kanzlerkandidatin lediglich gratuliert.
So heftig waren die Angriffe auf Baerbock, dass selbst das Bundesinnenministerium offenbar besorgt ist. Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" jedenfalls berichtete aus einer internen Studie, in der es heißt: "Schnell und mehrfach" sei Baerbock seit ihrer Ernennung "zum Gegenstand einer rhetorisch verschärften Berichterstattung gemacht worden".
Sind die Grünen zu naiv gewesen?
Die Parteizentrale der Grünen in Berlin wurde von den heftigen Kampagnen gegen die Vorsitzende kalt erwischt, vor allem von den sexistischen und persönlichen Attacken. Für Rolf Pohl ist das überraschend: "Das habe ich auch nicht verstanden. In dieser Frage sind sie, glaube ich, einfach zu naiv. Wir wissen doch seit langem, dass Frauen, die exponiert in der Öffentlichkeit stehen, immer wieder Opfer von sexistischen Angriffen sind."
Mittlerweile werden viele Interviewanfragen mit der Kanzlerkandidatin abgesagt, die Grünen versuchen, den Co-Vorsitzenden der Partei, Robert Habeck, der zugunsten von Baerbock auf eine Kandidatur verzichtet hatte, mehr in den Vordergrund zu stellen. Und die Grünen bemühen ab jetzt eben auch Anwälte, um sich gegen die Angriffe zu wehren.
Rolf Pohl empfiehlt der Partei, nicht auf jeden einzelnen Vorwurf im Detail einzugehen, auf ganz heftige Angriffe aber schon: "Sie müssen gerichtlich vorgehen gehen eindeutige Falschmeldungen. Ganz klar. Aber man begibt sich auf einen schmalen Grat. Es besteht die Gefahr, dass man sich verzettelt, anstatt Wahlkampf zu führen."
Und noch etwas würde Pohl an Baerbocks Stelle tun: "Ich glaube, was gut wäre, wäre eine grundsätzliche öffentliche Erklärung. Vielleicht auch zusammen mit anderen namhaften öffentlichen Personen und Parteien."
Darin sollte Baerbock nochmal die Fehler eingestehen, die sie tatsächlich etwa in ihrem Lebenslauf gemacht hat, sagt der Sozialpsychologe. Aber sie sollte eben auch ihr Recht auf eine Kandidatur selbstbewusst einfordern.