Antisemitismus trotz Erinnerungskultur
6. Mai 2020Denkt man an antisemitische Vorfälle im vergangenen Jahr in Deutschland, fällt einem sofort der Angriff auf eine Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein: Ein Rechtsterrorist hatte am 9. Oktober versucht, ein Blutbad in der Synagoge dort anzurichten. Als er damit scheiterte, tötete er in der Folge wahllos außerhalb des Gebäudes zwei Menschen. Während dieser Vorfall besonders hervortritt und die jüdische Community massiv verunsichert hat, zeigen Daten der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), dass Antisemitismus 2019 in vielen Erscheinungsformen auftrat. Erstmalig liefert die Meldestelle für Antisemitismus nicht nur Daten für die Hauptstadt Berlin, sondern auch für die Bundesländer Brandenburg, Schleswig-Holstein und Bayern. Dadurch sind Vergleiche über Bundesländer hinweg möglich.
Alexander Rasumny von RIAS weist allerdings darauf hin, dass die Meldestellen in Bayern, Schleswig-Holstein und Brandenburg noch recht neu sind. Dadurch sind sie noch nicht so bekannt sind wie die Meldestelle in Berlin, die schon länger aktiv ist. "Unseren Erfahrungen aus Berlin zufolge braucht eine Meldestelle einige Jahre, um Bekanntheit aufzubauen. Insofern stehen die Zahlen von RIAS Berlin im fünften Jahr des Bestehens in einem ganz anderen Kontext als diejenigen der drei anderen Stellen und sind nicht zuletzt deshalb viel höher", sagt Rasumny der DW. Außerdem konnten in Berlin und Brandenburg die Daten mit den jeweiligen Landeskriminalämtern abgeglichen werden. Dadurch konnten weitere Fälle entdeckt werden, die bei den Meldestellen nicht eingegangen waren.
Die Taten
Insgesamt zählt RIAS in allen vier Bundesländern 1253 offiziell gemeldete antisemitische Vorfälle, unter anderem körperliche Angriffe, Hassbotschaften per Post oder E-Mail und verletzendes Verhalten. Brandenburg kommt so beispielsweise auf 11,5 Vorfälle im Monat, in Berlin sind es durchschnittlich etwa zwei am Tag.
Nach dem rechtsextremen Angriff auf die Synagoge in Halle stieg im Oktober bundesweit die Zahl der antisemitischen Vorfälle, als "Abwehrreaktion auf die Diskussion über Antisemitismus", wie es im Brandenburger RIAS-Bericht heißt. In Berlin-Mitte kam es beispielsweise am 15. Oktober, also sechs Tage nach dem Angriff in Halle, zu folgendem Vorfall, zitiert aus dem RIAS-Berlin-Bericht:
"Auf eine Stele des Denkmals für die ermordeten Juden Europas wurde als Zeichen der Solidarität mit dem Attentäter des rechtsextremen Terroranschlags in Halle (Saale) 'Free Stepi' geschmiert."
"Stepi" ist eine Anspielung auf den Vornamen des Rechtsterroristen.
Die Täter
Auch 2019, wie schon die Zahlen aus vorangegangen Jahren in Berlin zeigen, stammt der überwiegende Teil der Taten, die einem politischen Hintergrund zugeordnet werden können, aus einem Milieu der extremen Rechten.
Andere Milieus, aus denen antisemitische Taten stammen, sind etwa antiisraelischer Aktivismus, wie die vom Bundestag als antisemitisch eingestufte Boykott-Bewegung BDS, das islamistisches Milieu, das linke Spektrum, aber auch die politische Mitte. Was auffällt: In allen Bundesländern konnte ein großer Teil der antisemitischen Vorfälle gar keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden. In Berlin waren das über 45 Prozent der Taten.
Die Meldestelle in Schleswig-Holstein erklärt diesen großen Bereich damit, dass nur solche Taten einem politischen Spektrum zugerechnet werden, bei denen eindeutige Hinweise darauf vorliegen. Das sei eher am rechten Rand gegeben, da Antisemitismus innerhalb der extremen Rechte ein "zentrales Ideologiefragment" sei, das offen und eindeutig zutage trete. Deshalb würden es Meldende häufig eher erkennen und beschreiben können. "Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlicher, dass ein extrem rechter Tathintergrund häufiger erkannt wird als beispielsweise ein evangelikaler", heißt es im RIAS-Bericht Schleswig-Holstein.
Die Motive
RIAS unterteilt Antisemitismus in fünf verschiedene Erscheinungsformen, die auch gleichzeitig auftreten können. Sie zeigen, wie vielfältig antisemitische Angriffe auftreten können.
Beim "antisemitischen Othering" werden Jüdinnen und Juden als fremd oder nicht dazugehörig beschrieben und beispielsweise als "Jude" beschimpft. Ein klassisches Beispiel dafür verzeichnete RIAS in Kiel am 6. April 2019:
"Am Rande eines Fußballspiels schrie ein Sympathisant der Heimmannschaft nach einer Schiedsrichterentscheidung "Jude, Jude, Jude". Als ein anderer Zuschauer ihn daraufhin ansprach und deutlich machte, dass solche antisemitischen Äußerungen weder im Stadion noch an anderem Ort Platz haben, wurde der Mann aggressiv und schrie dem Couragierten an: 'Ich darf jeden als Juden beleidigen, ich bin Deutscher!'"
Religiös begründete Stereotype sind Teil des antijudaistischen Antisemitismus. Wird Jüdinnen und Juden, etwa im Rahmen von Verschwörungsmythen, eine besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben, bezeichnet das einen modernen Antisemitismus, wie etwa in Potsdam am 19. Mai:
"Eine etwa fünfköpfige Gruppe junger Frauen und Männer pöbelte im Nachtbus und sorgte durch ihr aggressives Auftreten für eine bedrohliche Atmosphäre. Ein Mitglied der Gruppe näherte sich bedrohlich einem anwesenden Schoah-Überlebenden, der zu einem Zeitzeugengespräch in der Stadt war und eine Krawatte mit einem Davidsternanstecker trug. Der junge Mann fasste die Krawatte an und fragte, was das für ein Stern sei. Ein anderer Mann aus der Gruppe fragte eine der Begleiterinnen, was das für ein Stern sei und fügte hinzu, ob der Zeitzeuge ein Bänker sei. "Was hat er beruflich gemacht, bevor er Rentner wurde", er nannte verschiedene Banken und fragte, ob der Mann diesen angehört habe. Als die Betroffenen letztlich ausstiegen, warnte der Mann eine der Begleiterinnen bedrohlich, dass sie "vorsichtig sein" sollen, denn 'man weiß nie, was so jemand macht. Du weißt schon, was ich meine'."
Der israelbezogene Antisemitismus richtet sich gegen den Staat Israel, etwa indem diesem die Legitimität abgesprochen wird.
Abwehr der nationalsozialistischen Vergangenheit
Der Post-Schoah-Antisemitismus schließlich bezieht sich auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen, beispielsweise wenn die Erinnerung an die NS-Verbrechen abgelehnt wird, so wie in München am 23. Oktober 2019:
"Ein jüdischer Facebook-Nutzer erhält eine antisemitische Privatnachricht. Darin heißt es unter anderem: 'könnt ihr nicht Endlich mal die Deutschen in Ruhe lassen? Es reicht ja schon was ihr während des 2. Weltkrieg bzw. DANACH angerichtet habt."
Diese letztgenannte Form des Post-Schoah-Antisemitismus sei 2019 flächendeckend besonders stark ausgeprägt gewesen. Ein Vergleich zwischen der Metropole Berlin und dem ländlichen Brandenburg zeigt, dass ein Antisemitismus, der sich positiv auf NS-Verbrechen bezieht und eine Erinnerungskultur ablehnt, stärker auf dem Land vorkommt als in der Stadt.
"In den ländlichen Gebieten spielt beispielsweise der israelbezogene Antisemitismus eine geringere Rolle. Das ist eher ein Phänomen der urbanen Gegenden", sagt Rasumny von RIAS. Auch im Internet ist der Post-Schoah-Antisemitismus die stärkste Form des Antisemitismus, aber etwas weniger stark ausgeprägt als offline.
In wenigen Tagen jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. In einer Umfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" zu diesem Anlass finden etwas mehr als die Hälfte der Befragten, dass es Zeit sei, einen "Schlussstrich" unter die NS-Vergangenheit Deutschlands zu ziehen. Der Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums, Julius H. Schoeps, meint, diese Zahlen und die Daten des RIAS machten deutlich, wie wichtig es sei, allen Formen von Antisemitismus entgegenzutreten.