"Apple kann Kunden nicht nach Bermuda verschieben"
7. November 2017DW: Nach Expertenschätzungen entgehen Deutschland pro Jahr zwischen 50 und 70 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung. Wie sieht es mit legaler Steuervermeidung durch Unternehmen aus?
Gabriel Zucman: Nach unseren Schätzungen, zusammen mit Thomas Torslov und Ludvig Wier, entgehen Deutschland pro Jahr 17 Milliarden Euro an Steuern, weil multinationale Konzerne Profite gezielt in Steueroasen verschieben.
Warum ist Deutschland der größte Verlierer in der EU, wenn es um die Verlagerung von Gewinnen in Steueroasen geht?
Wenn es um den Anteil des Unternehmenssteueraufkommens geht, der durch die künstliche Verlagerung in Steueroasen geht, dann ist Deutschland sogar das am schwersten geschädigte Land in der gesamten entwickelten Welt. Der Anreiz, Gewinne aus Deutschland ins Ausland zu verschieben, ist hoch, weil die Unternehmenssteuersätze sehr hoch sind. Sie liegen um die 30 Prozent, je nach dem Steuersatz der Kommune, in der das Unternehmen seinen Sitz hat.
Aber das heißt nicht, dass Deutschland seine Unternehmenssteuern senken sollte. Stattdessen sollte es multinationale Unternehmen anders besteuern, indem deren globale Gewinne auf die Länder aufgeteilt werden, in denen der Umsatz gemacht wird. Wenn also Apple weltweit 100 Milliarden US-Dollar Gewinn macht und zehn Prozent des Umsatzes entfallen auf Deutschland, dann sind zehn Prozent des weltweiten Apple-Gewinns in Deutschland steuerpflichtig. Das würde den Steuervermeidungspraktiken internationaler Konzerne sofort einen Riegel vorschieben. Schließlich können sie ihre Kunden nicht nach Bermuda verschieben.
Ihre Recherchen haben ergeben, dass der EU rund 20 Prozent ihrer Unternehmenssteuern entgehen, weil Milliardengewinne in Steueroasen verlagert werden. Damit ist die Europäische Union weltweit der größte Verlierer durch Steuervermeidungsmodelle internationaler Konzerne. Absurderweise sind aber auch einige der größten Gewinner der gezielten Gewinnverlagerung von Unternehmen EU-Mitglieder, nämlich Irland, die Niederlande und Luxemburg. Was sollte getan werden, um das zu ändern?
Wir müssen die Art und Weise ändern, wie multinationale Unternehmen besteuert werden - nämlich indem sie ihre Gewinne dort versteuern müssen, wo sie erwirtschaftet wurden. Das kann jedes Land einseitig machen: Deutschland könnte morgen entscheiden, wie es multinationale Konzerne künftig besteuert. Damit würden Irland, Luxemburg und die Niederlande (als Steueroasen, Anm. d. Red.) bedeutungslos. Das ist im Augenblick die wichtigste politische Priorität.
Ihre Recherchen sind datenbasiert. Wenn Sie allgemein das als Wissenschaftler können, warum schaffen das nicht auch die Steuerbehörden?
Als Forscher genießen wir den Luxus, dass wir für unsere Recherchen Tag für Tag bezahlt werden. Die Mitarbeiter der Steuerbehörden haben so viel anderes zu tun - am meisten sind sie natürlich mit Steuererklärungen beschäftigt. Außerdem haben sie nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung.
Die Paradise Papers enthalten die Namen von mehr als 120 Politikern aus nahezu 50 Ländern. Heißt das, die politische Klasse ist Teil des Problems?
Ich denke, dass wirkliche Veränderungen möglich sind. Wir haben einiges an Fortschritten in den vergangenen zehn Jahren erlebt, etwa mit dem automatischen Austausch von Bankinformationen. Was wir brauchen, ist die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, um auch einen Fortschritt bei der Unternehmensbesteuerung hinzubekommen. Wir müssen die Gewinne der multinationalen Unternehmen dort besteuern, wo sie entstehen.
Gabriel Zucman forscht an der University of California in Berkeley. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Besteuerung von internationalen Unternehmen und der gezielten Verlagerung von Unternehmensgewinnen in Steueroasen. 2014 erschien sein Buch: Steueroasen - Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird.