Arvo Pärt: Pop-Star der Komponisten
11. September 2020"Tabula rasa" - das klingt nach Ausrasten, Wüten und geballter Entladung der Emotionen. Doch in Arvo Pärts gleichnamigen Konzert aus dem Jahr 1977 passiert musikalisch das glatte Gegenteil: wenige Akkorde, einfache Melodien, klare Harmonien in Dur und Moll. Und das Ganze eingebettet in einem ruhig dahin strömenden meditativen Duktus, der nur selten von harten Akzenten gestört wird. Diese Elemente prägen seit mehr als 40 Jahren das musikalische Schaffen des estnischen Komponisten Arvo Pärt. Sie bescherten ihm sogar eine Art Pop-Star-Status unter den lebenden zeitgenössischen Komponisten; denn von keinem anderen seiner Kollegen wird so viel gespielt wie von Pärt. Am Anfang seiner Karriere schlug der in der Öffentlichkeit eher scheu und schüchtern wirkende Este noch völlig andere Töne an.
Suche nach eigener Musiksprache
Am 11. September 1935 im estnischen Paide geboren, beschäftigte Pärt sich bereits während seines Kompositionsstudiums bei Heino Eller und Veljo Tormis intensiv mit den damaligen modernen Strömungen seiner Zeit. Anfangs stilistisch noch beeinflusst von Bartók, Prokofjew und Schostakowitsch, entwickelte er sich zu Beginn der 1960er Jahre zu einem der progressivsten Komponisten der sowjetischen Avantgarde.
Auf der Suche nach der eigenen Musiksprache experimentierte Pärt mit Zwölftontechnik, seriellen Formen und Klangcollagen. Seine Techniken empfanden sowjetische Kulturfunktionäre schon bald als zu modern. Doch offensichtlich fand der Komponist nicht das, wonach er suchte; nach 1968 geriet Pärt in eine Schaffenskrise, die ihn für acht Jahre verstummen ließ.
Arvo Pärt: "Es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird"
In dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit der Musik des Mittelalters und der Renaissance. Sie bewog den Komponisten zu einem erneuten drastischen Kurswechsel: der einstige Avantgardist wandte sich nun konsequent einem neuen Stil mit einfachen Formen, Strukturen und Harmonien zu, den er "Tintinnabuli" nannte, angelehnt an das glockenhafte Klingen eines schlichten Dreiklangs: "Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird", schrieb Pärt darüber; "Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen."
Seine neue Klangsprache stellte er 1976 erstmals in dem Klavierstück "Für Alina" vor. Während diese im Westen auf überwiegend positive Resonanz stieß, lehnte die sowjetische Kritik sie wiederum ab. Jetzt störte man sich am Religiös-Spirituellen in Pärts Musik. 1980 zog der Komponist die Konsequenzen aus dem zunehmenden Druck seitens der Kulturbehörden und emigrierte nach Österreich; dort erhielt er die Staatsbürgerschaft des Landes. Nur ein Jahr später übersiedelte Pärt nach West-Berlin, wo er bis 2008 lebte und arbeitete. Mittlerweile ist Tallinn wieder Pärts Lebensmittelpunkt.
"Entschleunigte" Musik als Markenzeichen
Präparierte Musikinstrumente, Bandeinspielungen oder Live-Elektronik, typisch avantgardistische Elemente in vielen zeitgenössischen Kompositionen, sind Pärt durchaus nicht fremd; allerdings entfalten sie in seinem spezifischen musikalischen Kontext eine völlig andere Wirkung. Aufregung, Hektik oder gar "Überdrehtheit" findet man in seinen Werken nicht, auch wenn einige Titel, wie sein Konzert "Tabula rasa", das vermuten ließen.
Vielmehr sind sie geprägt von einer großen Ruhe, Melancholie und Schlichtheit. Pärt arbeitet mit musikalischen Mitteln, die denen der "Minimal Music" sehr ähnlich sind. Doch im Gegensatz zum befreundeten und sehr geschätzten amerikanischen Kollegen Philip Glass setzt der Este in seinen Kompositionen auf eine "Entschleunigung" und gibt ihnen damit eine mystische, fast archaische Wirkung.
Kompositionen haben magische Sogwirkung
Diese haben auch viele Filmproduzenten entdeckt: Neben Glass dürfte Pärt der wohl beliebteste Komponist sein, dessen Werke gerne zu eindrucksvollen Bildern in Filmen und Dokumentationen verwendet werden. Sein Stück 'Spiegel im Spiegel' beispielsweise kommt unter anderem in den Filmen "The East", "Gravity" oder Tom Tykwers "Heaven" vor.
Ein Blick auf sein überaus umfangreiches Schaffen zeigt, dass Pärt sich bereits in den 1960er Jahren mit der christlichen Religion auseinandersetzte. Die meisten der nach 1977 entstandenen Kompositionen sind genau genommen geistliche Werke. Allerdings scheint Pärt in ihnen weniger dem Glauben an sich als vielmehr Fragen des Seins, der Menschlichkeit oder dem Sinn des Lebens nachzuspüren.
Die daraus entstehende Mischung von Zeitlosigkeit, Meditation, Mystik und Melancholie in seiner Musik, die zumeist leise, unaufdringlich und manchmal geradezu schüchtern daherkommt, berührt den Zuhörer nachhaltig: Ohne es zu merken, wird er hineingezogen in die magische Klangwelt von Pärts Kompositionen. Diese fesseln und begeistern nicht nur Menschen, die sonst wenig für klassische Musik übrig haben, sondern werden auch von Generationen jeden Alters verstanden.
Dies ist eine aktualisierte Version des Artikels vom 11.09.2015.