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Politik

"Nichts mehr von der Demokratie übrig"

Gezal Acer
15. Mai 2019

Für die türkische Autorin Asli Erdogan bedeutet die Annullierung der Wahlen in Istanbul das Ende der Demokratie in der Türkei. Sie erwarte auch kein demokratisches Ergebnis bei den Neuwahlen, so Erdogan im DW-Interview.

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Bild: DW/Basak Demir

Die studierte Physikerin und Schriftstellerin Asli Erdogan lebt seit Oktober 2017 in Frankfurt im Exil. Nachdem sie für die pro-kurdische Zeitung "Özgür Gündem" einen Artikel über das Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte im Südosten des Landes veröffentlicht hatte, wurde sie verhaftet - wegen angeblicher Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Sie saß ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. In ihrem Roman "Das Haus aus Stein" aus dem Jahr 2009 nahm sie ihr eigens Schicksal vorweg – es geht um Gefangenschaft, Folter und Verlust. Für die deutsche Ausgabe, die nun heraus kommt, hat Erdogan den Roman um einen Essay über ihre eigene Haftzeit ergänzt.

DW: Ein Thema ist zurzeit in aller Munde: Die Hohe Wahlkommission hat 36 Tage später die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul annulliert, nun gibt es am 23. Juni Neuwahlen. Was denken Sie über diese Entscheidung?

Asli Erdogan: Die Entscheidung habe ich bereits erwartet. Das wundert mich überhaupt nicht – nur wollten wir diese Schande nicht wahrhaben. Gleichzeitig ist es gut, dass die Maske nun gefallen ist. Nun zeigt sich: Nicht einmal das grundlegendste Prinzip der Demokratie ist uns geblieben. Das Prinzip der freien Wahlen. Lasst es uns einfach akzeptieren! In der Türkei ist nichts mehr von der Demokratie übrig geblieben.

Sie haben selber gesagt, dass es nun Zeit sei, von Faschismus zu sprechen. Glauben Sie, dass trotz dieses Pessimismus die Neuwahl im Juni ein demokratisches Ergebnis hervorbringen könnte?

Nein, auf keinen Fall. Die AKP kann gar nicht verlieren. Nicht mal der Wählerwille wird das Ergebnis bestimmen. Sie werden einfach die nötigen Vorkehrungen treffen. Ich glaube, dass meine Worte jetzt immer mehr zutreffen. Heute sehen es sogar diejenigen ein, die sich am längsten gegen diese Bezeichnung gesträubt haben. Ich meine Faschismus im weiteren Sinne, nicht unbedingt als wissenschaftlich gefasste Definition. Aber ganz ehrlich, wenn eine einzige Person über lebenslange Haftstrafen entscheidet, dann ist das für mich nicht autoritär oder totalitär. Nein, das ist faschistisch. In der Türkei reicht lediglich eine Beschwerde einer einzigen Person aus, um jemanden eine lebenslange Haftstrafe zu verpassen. Das ist kein Spaß mehr. In so einer Situation interessiert es mich herzlich wenig, ob man die Türkei nach akademischen Kriterien eigentlich nicht als faschistisch bezeichnen dürfte.

Vor zweieinhalb Jahren saßen sie im Gefängnis. Auf Solidaritätsveranstaltungen wurde Ihr Brief aus dem Gefängnis vorgetragen. Jetzt sind sie frei und nehmen in Deutschland an Panels und Lesungen teil. Wie fühlt sich dieser Lebenswandel an?

Ein emotionaler Lebenswandel, aber der Wandel ist ja noch nicht abgeschlossen. Irgendwie fühlt es sich so an, als sei meine Seele im Gefängnis zurückgeblieben. Andere Menschen in der Türkei können weder das Gefängnis, noch das Land verlassen. In den Gefängnissen findet gerade ein Hungerstreik statt. Eine Freundin, die mit mir in der Zelle war, hat mit dem Todesfasten begonnen. Dieses Gefühl ist sehr schwer. Ich bin weder frei noch inhaftiert. Ich müsste eigentlich dankbar sein, aber das bekommt man auch nicht hin.

Diese schlimmen Erfahrungen - beflügelt Sie das, oder hemmt es Sie eher?

Meine Werke sind meist über Traumata. Die Erfahrungen im Gefängnis und im Exil sind traumatische Erfahrungen. Ich hoffe, dass ich sie wenigstens in meiner Literatur verwerten kann. Aber als Autor hat man kaum eine Gewissheit. Man weiß nie, ob man zu Lebzeiten einen einzigen aussagekräftigen Satz machen kann. Man fängt bei jedem Satz von vorne an. Nun muss ich einen harten Brocken verdauen. Ich weiß nicht, ob ich Erfolg haben werde. Aber ich fühle mich, als ob ich mir selber, meinen Freunden in Haft und der gesamten Türkei gegenüber eine Schuld trage. Es sollte geschrieben werden. Dafür muss man einfach am Leben bleiben.

Führt das Leben im Exil zur Entfremdung von der Heimat oder führt das zu einer noch größeren Verbundenheit?

Von beidem etwas - es schwankt von Zeit zu Zeit. Ich bin schon enorm frustriert von den Verhältnissen in der Türkei, aber alles in allem tendiert mein Gefühl eher in Richtung Verbundenheit. Wenn man im Exil ist, wird man gezwungen, die Heimat in einem selbst zu finden. Es ist eine sehr tiefe und unzerbrechliche Verbindung und man muss sie schaffen, um nicht verloren zu gehen. Das ist ein komplizierter Prozess, wobei man aber auch wächst. Jedes Exil ist eine Reaktion. Sowohl auf das Herkunftsland als auch auf das neue Land. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich fragen muss, was die Heimat ist und was die Heimat in einem ist.

Was vermissen Sie aus ihrem alten Leben in der Türkei am meisten?

Natürlich an erster Stelle meine Mutter. Meine tote Katze - ich sehe sie ständig in meinen Träumen. Ich vermisse das Meer. Eigentlich kann ich ohne Meer nicht leben. Ich vermisse auch die Sonne. Ich wurde in Istanbul geboren, dort bin ich aufgewachsen. Alle Istanbul-Klischees vermisse ich, den Tee, den Bosporus. Wenn ich ein Video mit Möwen über dem Bosporus zugeschickt bekomme, dann werden meine Augen feucht.

Fühlen Sie sich einsam?

Ich bin ziemlich einsam in Frankfurt. In Berlin oder Köln sähe es vielleicht doch anders aus. Doch wenn ich in Istanbul geblieben wäre, würde ich in täglicher Angst vor der Polizei leben, diese Angst wäre allgegenwärtig. Es war wirklich eine Erleichterung, dass ich nicht mehr unter diesem Druck lebe. Es ist ein Segen nachts zu schlafen, ohne dass man einen Besuch von der Polizei zu erwarten hat.

Aus verschiedenen Ländern erhielten sie Unterstützung, es fanden Solidaritätsveranstaltungen statt. Sie sind mittlerweile nicht mehr in Haft. Nach wie vor befinden sich aber viele Schriftsteller und Journalisten in der Türkei im Gefängnis. Ist die Europäische Union kritisch genug?

In meinem Fall ist diese internationale Solidarität wirklich sehr effektiv gewesen. Vielleicht weil wir die ersten Häftlinge waren, oder vielleicht wegen der Fotos, die damals aus der Türkei ins Ausland gelangten. Fotos von Menschen, denen die Ohren abgeschnitten wurden, von gefolterten Offizieren - das hat die ganze Welt geschockt. Die Empörung hat jetzt nachgelassen, vielleicht weil so viele Menschen verhaftet wurden, dass man sich da irgendwie daran gewöhnt hat. Ich wünschte, es gäbe mehr Reaktionen, aber anderseits muss man das rational sehen. Dass Frau Merkel Präsident Erdogan letzten September empfing, hat mich sehr gewundert. Es sind widersprüchliche Haltungen. Auf der einen Seite wird viel kritisiert, auf der anderen Seite heißt es: Du kannst machen, was du willst, solange du die Flüchtlinge von uns fernhältst. Ich glaube, die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit sind eindeutiger als die der deutschen Politiker.

In Ihrem letzten DW-Interview haben Sie gesagt, dass Sie nicht sehen, dass in den nächsten zehn Jahren Ihre Rückkehr in die Türkei möglich sein wird. Wollen Sie irgendwann in die Türkei zurückkehren?

Natürlich will ich das. Als ich in Deutschland ankam, sagte ich: Nur drei Tage und ich gehe zurück. Die Lage hat sich jedoch in den folgenden eineinhalb Jahren sogar noch mehr verschlechtert. In die Türkei zurückkehren bedeutet, ein Risiko einzugehen. Das Risiko, wieder im Gefängnis zu landen. Sie könnten mich alleine aus dem Grund verklagen, dass ich mit Ihnen gerade spreche. Dieses Gespräch könnte mir zehn Jahre Gefängnis einbringen. Aber genau wie man seine Nase nicht abtrennen kann, kann man auch nicht seine Heimat abtrennen. Für die nächsten paar Jahre bin ich aber überhaupt nicht mehr optimistisch. Es wird nichts mehr Gutes kommen, sondern ein Regime, das allen Menschen die Luft zum Atmen nimmt.

Das Interview führte Gezal Acer.