Auch in Grautönen politisch
15. April 2013Wer beim Stichwort Comic an zackig, knallig und an Kraftausdrücke denkt, wird verwundert sein über Paula Bullings erstes Buch, das im vergangenen Sommer erschien. "Im Land der Frühaufsteher" ist ein aufrüttelnder Einblick in das Leben von Asylbewerbern in Sachsen-Anhalt - und dabei in den Zeichnungen "ein totaler Mix aus Bleistift, Filzstift, Kreide, Tusche, aus allem, was mir damals so unter die Finger gekommen ist", erklärt die 27-Jährige. Anders als viele ihrer Kollegen arbeitet Paula Bulling nicht an Lichttisch und Computer, sondern bringt ihre Zeichnungen erst vollständig zu Papier und scannt sie dann ein. Das mutet etwas umständlich und altmodisch an. Aber diese klassische Arbeitsweise stammt aus den Anfängen ihres Studiums, als sie noch Bildhauerin werden wollte, und entspricht ihr bis heute am besten.
Fremde Welt im eigenen Land
Und so ist "Im Land der Frühaufsteher" auf vielen Ebenen umwerfend unkonventionell: beim Thema, in der Machart, wegen seiner Aufrichtigkeit. Die gebürtige Berlinerin hat über mehrere Monate von Halle aus verschiedene Asylbewerberheime in Sachsen-Anhalt besucht und die Menschen und ihr Leben dort gezeichnet. Alle Schattierungen, die es so gibt zwischen Weiß und tiefem Schwarz-Blau, tauchen auf den 125 Seiten auf. Sie erzählt von Ausgrenzung, alltäglichem Rassismus und Tod, von der Trostlosigkeit und dem Warten auf ein besseres Leben. Ihre Figuren, allen voran Farid aus Mali und Aziz, den sie in der Zentralen Annahmestelle für Asylbewerber (ZASt) in Halberstadt besucht, wirken deshalb so authentisch, weil ihnen nichts in den Mund gelegt wurde.
Noel Kaboré, der vor 33 Jahren in Ouagadougou in Burkina Faso geboren wurde und 2008 als Asylbewerber nach Deutschland kam, hat viele der Texte gemeinsam mit der Comiczeichnerin überarbeitet und lässt die Protagonisten nun in ihrem ganz eigenen phantasievoll-melodischem Deutsch reden. Genau dort ist das Buch am stärksten. Dabei schien ihm das Vorhaben völlig utopisch: "Paula hat mir gesagt, dass sie ein Buch, einen richtigen Comic machen möchte. Und ich hab sie ausgelacht. Ich habe gesagt, dass ich ihr trotzdem helfe. Obwohl ich dachte, dass das nichts wird und es nie ein Buch mit diesen Texten geben wird", erinnert er sich. Seine eigene Geschichte ist in die der Figur Aziz eingeflossen.
Es ist schlimmer als das
Dennoch kann ein Comic die Wirklichkeit nur andeuten. "Im Buch sieht das gar nicht so schlimm aus, aber in der Realität ist es noch schlimmer", sagt Noel Kaboré. Erinnert er sich an seine ersten drei Monate im Asylbewerberheim, fällt das Wort Trauma. "Das war wirklich wie im Gefängnis, muss ich sagen. Und man fühlte sich alleine, ausgegrenzt von der Bevölkerung." Wollte er nach Halle oder nach Magdeburg fahren, brauchte er eine Genehmigung - Residenzpflicht nennt sich diese Auflage in Deutschland. Heute lebt der gelernte Buchhalter in Halle und ist dort im Ausländerbeirat der Stadt der zweite Stellvertretende Vorsitzende.
Die Resonanz auf "Im Land der Frühaufsteher" - der Titel spielt übrigens auf einen Werbeslogan des Bundeslandes Sachsen-Anhalt an - war fast so umwerfend wie der Comic selbst. "Was sicherlich auch daran lag, dass das Thema wegen anderer Dinge auf der Agenda war", schiebt Paula Bulling schnell ein. 2012 ordnete das Bundesverfassungsgericht nämlich eine Revision des Asylbewerberleistungsgesetzes an. Außerdem jährte sich das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zum 20. Mal, und Flüchtlingsproteste wurden weltweit stärker beachtet als zuvor. Im Zusammenspiel von all diesen Ereignissen sei oft nach einem künstlerischen Blickwinkel auf die Thematik gesucht worden. "Und dann hat sich das verselbstständigt, dass mein Buch dabei immer weitergereicht wurde", resümiert sie.
Weiterzeichnen
Paula Bulling wurde infolge der großen Aufmerksamkeit erstmal in eine Schaffenskrise gestürzt. Sie litt wieder unter dem Gefühl, "als weiße Frau und als weiße Künstlerin in eine Fürsprecherinnenrolle gesteckt zu werden". Dabei taucht sie selbst als Figur im Comic auf, um sich mit eben diesen Klischees auseinanderzusetzen. Paula Bulling macht weiterhin politische Arbeit - manchmal als Privatperson, manchmal als Zeichnerin. Als das dänische Magazinprojekt "visAvis" ihr den Auftrag gab, auf dem Berliner Oranienplatz ein Protestcamp von Flüchtlingen zu zeichnen, war sie froh. Denn da konnte sie beides sein: neugierige Beobachterin und sehr talentierte Künstlerin.