Aufruhr in Guatemala
24. August 2015In dem kleinen mittelamerikanischen Land blüht der zivile Ungehorsam. Seit vier Monaten demonstrieren jedes Wochenende Tausende von Menschen für den Rücktritt von Staatschef Otto Pérez Molina. Der 65-jährige Ex-General soll in einen millionenschweren Korruptionsskandal beim guatemaltekischen Zoll verstrickt sein.
"Für die Bevölkerung in Guatemala sind die Korruptionsvorwürfe nicht neu. Neu sind die Beweise", erklärt Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut in Hamburg. "Neu ist auch, dass jetzt Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten gemeinsam auf die Straße gehen: Jung und Alt, die städtische Mittelschicht und Indigene."
Massenproteste in Brasilien, Lehrerstreiks in Mexiko, Studentendemos in Chile, Kleinbauernaufstand in Kolumbien und jetzt auch Guatemala: Ganz Lateinamerika scheint seine Regierungen aus dem Amt jagen zu wollen. Viele Menschen in der Region äußern ihre Wut über Korruption, Kriminalität und Inkompetenz.
"Die Geduld der Bürger ist erschöpft. Sie haben genug von populistischen Verheißungen", schreibt Julio Ligorria Carballido, Botschafter Guatemalas in den USA, für die Lateinamerika-Ausgabe der Tageszeitung "El Pais". Die Leute verlangten von ihren Regierungsvertretern, dass staatliche Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit funktionieren.
Im Würgegriff der Korruption
Genau dies ist in Guatemala nicht der Fall. Nach Angaben der Weltbank hat das Land im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt das niedrigste Steueraufkommen weltweit. Die Sozialprogramme zur Bekämpfung der Armut, unter der mehr als die Hälfte der rund 16 Millionen Einwohner leiden, sind chronisch unterfinanziert.
"Der große Sprengstoff Lateinamerikas ist die Korruption. Sie zerstört die Länder von innen", schreibt Botschafter Carballido. Die Schmiergelder hätten die Staaten in angreifbare Organismen verwandelt, die unfähig seien, die elementaren Aufgaben eines Gemeinwesens zu erfüllen.
Für Guatemalas Staatschef Otto Pérez Molina wird es politisch eng. Nach der Festnahme von Vizepräsidentin Roxana Baldetti am 21. August fordert nun auch der mächtige Unternehmerverband Cacif den Rücktritt des Staatschefs. Zwei Minister haben sich aus dem Kabinett von Pérez schon verabschiedet.
Geschäfte mit der Unterwelt
Kürzlich wartete die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG) mit einer weiteren negativen Überraschung auf. Die Kommission wurde 2007 mit Unterstützung der Vereinten Nationen geschaffen und hat sich wegen der Aufklärung zahlreicher Skandale - darunter auch die jüngste Korruptionsaffäre beim guatemaltekischen Zoll - Respekt verschafft.
Nach einem Bericht der CICIG sollen drei Viertel aller Politiker in Guatemala ihre Wahlkämpfe mit Geldern aus der organisierten Kriminalität finanziert haben. Die Parteien würden Posten in der Verwaltung für Preise zwischen 5000 und 10.000 Dollar verkaufen. Dadurch verwandelten sich die Behörden in Umschlagplätze für illegalen Einflusshandel.
Trotz der sich überstürzenden Ereignisse glaubt Expertin Sabine Kurtenbach nicht mehr an einen revolutionären "guatemaltekischen Frühling". Die Entwicklungen deuteten eher auf einen lateinamerikanischen Politthriller hin.
"Das Problem ist, dass es hinter den Massenprotesten gegen die Regierung keine Organisation gibt", erklärt sie. "Es ist immer einfach, gegen etwas zu sein. Aber die Frage, die bis jetzt noch keiner beantworten konnte, lautet: Wofür sind die Demonstranten?"
Hoffen auf Allianzen
Auch wenn es nicht an Kandidaten für die Präsidentschaftswahl am 6. September mangelt - für die Bevölkerung scheinen die bisherigen Protagonisten keine Perspektive für Veränderungen zu bieten. So liegt bisher in den Umfragen der Politiker Manuel Antonio Baldizón Méndez, Kandidat der Partei für "Demokratische Erneuerung" (Lider), vorne. Doch auch er gilt als Teil des korrupten Establishments.
Werden also alle Proteste verpuffen? Für Sabine Kurtenbach gibt es aus dem "Dilemma der Zivilgesellschaft" nur einen Ausweg: "Auch der Unternehmerverband Cacif müsste sich darüber klar werden, dass eine freie Marktwirtschaft auch einen funktionierenden Rechtsstaat und sozialen Ausgleich braucht."
Nur wenn sich Allianzen zwischen allen reformorientierten Kräften in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bildeten, von denen sowohl die Blockierer von Reformen als auch die Drahtzieher des organisierten Verbrechens ausgeschlossen würden, gäbe es eine Chance für Veränderung, so Kurtenbach. Eine Chance, die selbst im Land des ewigen Frühlings, wie sich Guatemala nennt, wie eine Utopie anmutet.