Aufschrei gegen Korruption
14. September 2015Die Stimme verzerrt: "Wo soll er hingehen?", schreit ein Demonstrant vor dem Regierungspalast in Tegucigalpa. Die Antwort, die ihm aus der Menge entgegenschallt, ist eindeutig: "Fortscheren soll er sich, weg mit ihm!"
Jeden Freitag spielt sich in der Hauptstadt des mittelamerikanischen Landes Honduras die gleiche Szene ab. Tausende von wütenden Bürgern marschieren durch die Straßen und fordern den Rücktritt des Präsidenten Juan Orlando Hernández.
Die Demonstranten wollen, dass dem honduranischen Staatsoberhaupt dasselbe Schicksal widerfährt wie seinem Amtskollegen im Nachbarland Guatemala. Nach Ermittlungen der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG) musste Otto Pérez Molina wegen Korruptionsvorwürfen am 3. September zurücktreten.
Demokratische Reifeprüfung
Massendemos in Guatemala und Honduras, Protestmärsche der Opposition in Venezuela, Lehrerstreiks in Mexiko, Kleinbauernaufstand in Kolumbien, enttäuschte Studenten in Chile, Wut auf Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff: Ganz Lateinamerika scheint seine Regierungen aus dem Amt jagen zu wollen. Untergraben Korruption und Kriminalität die jungen lateinamerikanischen Demokratien?
Guatemalas Botschafter in den USA, Julio Ligorria Carballido, befürchtet genau dies. "Der große Sprengstoff Lateinamerikas ist die Korruption, sie zerstört die Länder von innen", schrieb er kürzlich in der spanischen Tageszeitung "El País". Die Schmiergelder hätten die Staaten in angreifbare Organismen verwandelt, die unfähig seien, die grundlegenden Aufgaben eines Gemeinwesens zu erfüllen.
Die Statistik bestätigt diese Probleme. Zwischen 1990 und 2015 wurden in den sechs Ländern Zentralamerikas insgesamt 15 Staatsoberhäupter wegen Korruption angeklagt. Doch nur vier Ex-Präsidenten kamen ins Gefängnis: Rafael Ángel Calderón (1990-2004) und Miguel Ángel Rodriguez (1998-2002) aus Costa Rica, Arnoldo Alemán (1997-2002) aus Nicaragua und Alfonso Portillo (2000-2004) aus Guatemala. Ex-Präsident Francisco Flores aus El Salvador (1999-2004) steht unter Hausarrest.
"In Lateinamerika wächst die Zahl der Bürger, die sagen: Wir lassen uns das nicht mehr gefallen", erklärt Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut in Hamburg. Doch die Massenproteste gegen Korruption seien keine Garantie dafür, dass sich wirklich etwas verändere.
Mächtige Staatsanwälte
Kurtenbach führt aus, dass der Rücktritt von Guatemalas Ex-Präsident Otto Molinas nur möglich war, weil die erfolgreichen Ermittlungen der internationalen Kommission gegen Straflosigkeit von der Spitze der Staatsanwaltschaft in Guatemala unterstützt und mitgetragen wurden. "Diese Bereitschaft sehe ich in Honduras nicht", ergänzt Kurtenbach.
Lateinamerika-Expertin Reggie Thompson vom texanischen Think-Tank Stratfor betont, dass es beim Kampf gegen Korruption mehr auf juristische Expertise als auf Protestbewegungen ankomme. "Die Proteste gegen Korruption in Honduras stellen für die Regierung keine Bedrohung dar, denn es gibt keine juristischen Ermittlungen gegen den Präsidenten", erklärt Thompson.
Genau dies treibt die Bürger in Honduras auf die Straße. Denn nach Presseberichten hat Staatspräsident Hernández bereits zugegeben, seine Wahlkampagne 2013 mit illegal abgezweigten Geldern aus der einheimischen Sozialversicherung mitfinanziert zu haben. Trotzdem kam es bisher zu keiner Strafanzeige wegen Missbrauchs öffentlicher Mittel.
Abstimmung mit den Füßen
Sowohl in Honduras als auch in Mexiko fordern deshalb immer mehr Menschen die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission gegen Straflosigkeit nach dem Vorbild Guatemalas. Ohne den externen Rechtsbeistand verliefen die Ermittlungen im Sande und versetzten zudem einheimische Ermittler häufig in Lebensgefahr.
Mexikos ehemaliger Außenminister Jorge Castañeda forderte in der Tageszeitung "El Pais", dass die USA ihre bisherige Anti-Drogen-Politik durch eine Anti-Korruptions-Initiative ersetzen sollten. "Wenn die USA künftig die Errichtung einer Kommission gegen Straflosigkeit finanziell unterstützen würden, wäre das ein echter Fortschritt für die Region", schreibt Castañeda.
Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut will die politische Führungsschicht in Mittelamerika selbst mehr in die Pflicht nehmen. Die Zahl jugendlicher Emigranten aus Ländern wie Guatemala, Honduras oder El Salvador sei extrem hoch. "Alle, die etwas ändern wollen, gehen", erklärt die Expertin. "Solange die Eliten nicht begreifen, dass dies langfristig nicht funktionieren kann, ändert sich nichts."