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Auschwitz vor Gericht

Sarah Judith Hofmann 20. Dezember 2013

Der Film "Im Labyrinth des Schweigens" erzählt die Geschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse. Sie begannen 1963 und sorgten erstmals in Deutschland für eine Diskussion über die Verbrechen des Holocaust. Ein Rückblick.

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Frankfurter Auschwitzprozess 1963
Bild: imago/United Archives

Deutschland im Dezember 1963. Die Wirtschaft blüht, die Menschen können es sich leisten, Weihnachtsgeschenke für ihre Familien zu kaufen. Der Blick ist nach vorne gerichtet, der Krieg seit 18 Jahren vorüber. Was gewesen ist – welche Taten Menschen im NS-Regime begangen haben, mit denen man heute Tür an Tür lebt – darüber spricht niemand. Anders Fritz Bauer. Der hessische Generalstaatsanwalt und sein größtenteils junges Team von Juristen haben Zeugen aus der ganzen Welt ausfindig gemacht und davon überzeugt, nach Frankfurt am Main zu kommen, um auszusagen über das, was ihnen von Deutschen angetan wurde.

Als am 20. Dezember 1963 der so genannte "Frankfurter Auschwitz-Prozess" beginnt, ist dies vor allem Fritz Bauer zu verdanken. "Ohne ihn hätte der Prozess in dieser Form nicht stattgefunden", sagt Ronen Steinke, der eine Biografie über den deutsch-jüdischen Staatsanwalt geschrieben hat. Bauer ist 1949 aus dem schwedischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, hat sich schon bald einen Namen gemacht, indem es ihm gelingt, die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 zu rehabilitieren. Er widerlegt die NS-Rechtsprechung mit dem Argument, das Naziregime sei "kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat" gewesen. Er ist der Mann, der schließlich – ab 1963 – den ersten und bis heute größten Prozess gegen die Verbrechen des Holocaust vor ein deutsches Gericht bringt.

Filmstill Fritz Bauer – Tod auf Raten von Ilona Ziok
Fritz Bauer: Bild aus dem Film "Fritz Bauer - Tod auf Raten" aus dem Jahr 2010Bild: CV Films 2010

Das Gericht als Klassenzimmer

Mehr als 360 Zeugen sagen vor dem Frankfurter Schwurgericht aus und breiten so "vor der Öffentlichkeit das Inferno aus, das mit dem Namen Auschwitz für immer verbunden sein wird", so der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer. 211 der Zeugen sind Überlebende dieses größten Konzentrations- und Vernichtungslagers.

"Man könnte denken", erklärt Steinke, "es gehe Fritz Bauer darum, die Geschichte aufzuarbeiten. Oder um Rache und Vergeltung. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es geht ihm um Aufbau. Fritz Bauer will den Prozess nicht, weil er glaubt, das alte Deutschland hat ihn verdient, sondern das neue Deutschland braucht ihn."

Vor 50 Jahren: Auschwitz-Prozess in Deutschland

Der Staatsanwalt will die Deutschen Selbstverantwortung lehren. Fritz Bauer, so erzählt Steinke, sei einmal gefragt worden, was für ihn der Kern des Auschwitz-Prozesses sei. "Du musst nein sagen", habe er geantwortet, wenn der Befehl ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei, auch gegenüber Gesetzgebern, auch gegenüber Vorgesetzten. Bauer nimmt sich ein Beispiel an den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen, wo bereits ab Herbst 1945 jene Männer auf der Anklagebank sitzen, die stellvertretend für das gesamte NS-System stehen. Auch beim Auschwitz-Prozess werden die Angeklagten so ausgewählt, dass sie das verbrecherische Lagersystem repräsentieren. Eine Praxis, die auch heute noch bei den Prozessen am Internationalen Strafgerichtshof – vom Jugoslawientribunal bis zum Darfur-Prozess – angewandt wird.

Frankfurter Auschwitzprozess 1963 Robert Mulka
Der Hauptangeklagte ist Robert Mulka (mitte), ehemaliger Adjutant des Lagerkommandanten von AuschwitzBild: imago/United Archives

Die Herren Angeklagten wollen nichts gewusst haben

In Frankfurt stehen 22 Angeklagte auf der Liste. Robert Mulka, ehemaliger Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß, ist der Hauptangeklagte. Er muss sich stellvertretend für die Lagerleitung verantworten. Neben ihm sitzen Ärzte, Apotheker und Aufseher. Doch Mulka entscheidet sich – wie die meisten Angeklagten – zu schweigen und alles zu leugnen. Von der Ermordung von Millionen Menschen in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau will er nichts gewusst haben.

Am 79. Verhandlungstag fasst der Zeuge und ehemalige Häftling Josef Glück seine Verzweiflung über die Haltung der Angeklagten in Worte: "Ich muss Ihnen erklären, dass ich am zweiten Tag, als ich dort war, schon alles gewusst habe. Aber nicht nur ich. Dieser kleine Bursche, bitte, der war 16 Jahre alt. Der heißt Andreas Rapaport." Mit zitternder Stimme erinnert er sich an diesen Jugendlichen in Auschwitz. "Er hat mir zugeschrien: 'Onkel, ich weiß, dass ich sterben muss. Sage meiner Mutter, dass ich bis zum letzten Moment an sie gedacht habe.' […] Bitte, dieser kleine Bub, der hat gewusst, was dort ist. Und die Herren nicht." Auch nach solchen erschütternden Zeugenaussagen, ist bei den Angeklagten keine Läuterung zu erkennen.

1963 Auschwitzprozess Frankfurt
Die Presse berichtet täglich vom Prozess und stößt in Deutschland erstmals eine Debatte über den Holocaust anBild: picture alliance/Roland Witschel

Zum ersten Mal wird offen über den Holocaust gesprochen

Und doch bewirkt der Prozess etwas in der deutschen Gesellschaft. Denn erstmals seit Kriegsende wird mit dem Beginn des Prozesses in Deutschland offen über die Verbrechen der Nationalsozialisten gesprochen. 20.000 Menschen kommen, um sich den Prozess anzusehen. Vor allem Schüler und Studenten wollen wissen, was ihre Elterngeneration – die meist nicht mit ihnen über die Vergangenheit spricht – getan hat. Fritz Bauer wird zum Symbol des Antiautoritären im Staat, der das System aufweckt und das Establishment ärgert.

"Der Frankfurter Auschwitz-Prozess hat gezeigt, dass man die Verantwortung für die Verbrechen nicht einer nationalsozialistischen Führungselite in die Schuhe schieben konnte", sagt Monika Flores, "sondern dass Menschen daran beteiligt waren, die sich mitten in der Gesellschaft ganz frei bewegten. Und das war das Schockierende." Die Kuratorin der Ausstellung "Vor Gericht: Auschwitz / Majdanek" – ein neuer Teil der Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin – zieht eine geteilte Bilanz: "Der große Erfolg des Prozesses ist, dass er eine Diskussion angestoßen hat. Aber: Die strafrechtliche Verfolgung der Täter ist gescheitert".

Frankfurter Auschwitzprozess 1965 Haus Gallus Urteilsverkündung
20.000 Menschen schauen sich den Prozess anBild: picture-alliance/dpa

Mord verjährt nicht

Am 19.8.1965 – nach 20 Monaten Verhandlung – werden "In der Sache Mulka und andere" die Urteile verlesen. Der Hauptangeklagte wird wegen "gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord" lediglich zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nur sechs Männern kann Mord nachgewiesen werden.

Dabei taten nach heutigen Schätzungungen rund 7000 SS-Angehörige in Auschwitz ihren Dienst. Die deutsche Justiz zog bis heute 50 von ihnen zur Verantwortung. "Wäre man der juristischen Theorie von Fritz Bauer gefolgt, wonach jeder, der im Vernichtungslager mitgewirkt hat, wegen Mordes zu belangen ist, so hätte man sofort tausende verurteilen müssen", sagt der Jurist Steinke. Doch diese Interpretation des deutschen Rechts findet erstmals 2009 Anwendung, als John Demjanjuk aufgrund seiner Tätigkeit als Aufseher im Vernichtungslager Sobibór wegen Mordes verurteilt wird.

Heute – fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – wird noch immer gegen NS-Verbrecher ermittelt, unter anderem gegen KZ-Aufseher aus Auschwitz. Doch die Verfahren sind schwierig, die Angeklagten alt, die meisten Zeugen mittlerweile verstorben. "Heute ist es zu spät", meint Monika Flores, "aber trotzdem wichtig. Mord verjährt nicht."

Zum Weiterlesen:
Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Piper Verlag 2013.

Zum Weiterschauen:
"Fritz Bauer. Tod auf Raten". Ein Film von Ilona Ziok. Deutschland 2010, 97 Minuten, CV Films.

"Im Labyrinth des Schweigens" Ein Film von Giulio Ricciarelli. Deutschland 2014, 123 Minuten. Kinostart: 06.11.2014.