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PolitikKosovo

Kosovo: Was der Brain Drain auf dem Balkan bedeutet

Vjosa Cerkini aus Pristina
22. Juni 2023

Deutschland hat zu wenige Fachkräfte und will deswegen die Einwanderung erleichtern. Für Kosovaren gilt Deutschland mit seinen Möglichkeiten als Top-Auswanderungsziel. Doch im Land selbst fehlen die Menschen.

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Kosovo Brain Drain
Leere Geschäfte, verlassene Straßen - das Zentrum der kosovarischen Stadt GjakovaBild: Vjosa Çerkini/DW

In Gjakova, einer der schönsten Städte Kosovos, öffnet die 32-jährige Eljesa Beqiri jeden Morgen mit einem Lächeln die Sprachenschule "Opportunity". Sie liegt am Rande des Basars des 40.000-Einwohner-Ortes im Südwesten Kosovos. Die studierte Journalistin hat nie in ihrem eigentlichen Beruf gearbeitet. Stattdessen organisiert sie als Koordinatorin an der Sprachenschule Deutschkurse. Sie ist eine der wenigen jungen Kosovaren, die, im Gegensatz zu vielen ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen von Gjakova und Umgebung, nicht ins Ausland gehen möchten. Nahezu alle ihre Schüler verfolgen das Ziel, nach Deutschland oder in deutschsprachige  Länder auszuwandern. Gründe dafür sind vor allem das hohe Lohnniveau in Deutschland im Vergleich zu Kosovo und die soziale Absicherung mit einem Gesundheitssystem, das es in der Heimat nicht gibt.

Eljesa Beqiri sitzt in einem Café in Gjakova in Kosovo
Eljesa Beqiri organisiert in Gjakova Deutschunterricht für Fachkräfte, die nach Deutschland auswandern wollenBild: Vjosa Çerkini/DW

Die unverheiratete Eljesa Beqiri lebt mit ihrer Mutter und ihrem jüngsten Bruder in Gjakova. Vor sieben Jahren ist ihr anderer Bruder nach Deutschland ausgewandert, genauso wie alle sechs Brüder ihres Vaters. Für Beqiri kommt das nicht in Frage: "Ich würde nie nach Deutschland gehen wollen, weil ich gerne Albanisch spreche und meine Freunde hier sind und mir die Mentalität hier gefällt. Ich habe Freunde, egal, wo ich hingehe", erklärt sie und fügt augenzwinkernd hinzu: "Außerdem möchte ich auch keinen Deutschen heiraten."

Alle Kursmitglieder wollen weg aus ihrem Land

Das Durchschnittseinkommen in Kosovo beträgt nur etwa 300 Euro. Bei Lebenshaltungskosten, die häufig denen in Deutschland ähnlich sind, reichen diese geringen Monatseinkommen für die meisten jungen Kosovarinnen und Kosovaren gerade so zum Überleben. Viele leben noch bei ihren Eltern. Urlaub zu machen oder krank zu werden, können sie sich nicht leisten. Bei notwendigen größeren medizinischen Eingriffen wird innerhalb der Familie Geld gesammelt.

Auch Eljesa Beqiri war früher auf die Unterstützung ihres Bruders in Deutschland angewiesen. Seit drei Jahren jedoch verdient sie ein gutes Einkommen in der Sprachenschule. Zusammen mit dem Verdienst der anderen Familienmitglieder können sie sich nach eigenen Angaben ein gutes Leben leisten. "Die Kosovaren glauben, dass in Deutschland das Geld auf den Feldern wächst und sie es nur zu ernten brauchen", fasst Beqiri die Vorstellung ihrer Schüler zusammen.

Jedes Jahr unterrichtet allein die Sprachenschule "Opportunity" rund 340 Schüler und Schülerinnen - und fast alle wollen weg. Nur wenige von ihnen bleiben im Land, wo sie ihre Deutschkenntnisse nutzen und etwa in Call-Centern arbeiten, zum Beispiel in dem der Bambus Group, einem in Hamburg registrierten Unternehmen, das vielfältige Kundendienstleistungen im Telekommunikationsbereich in 36 Sprachen anbietet.

Kosovarischer Alltag: leere Geschäfte und fehlende Fachkräfte

Die malerische Altstadt von Gjakova ist geprägt von Geschäften, kleinen Cafés und Restaurants. Schon jetzt sind in der Fußgängerzone einige Ladenlokale geschlossen, Plakate werben um neue Mieter. Die ehemaligen Besitzer sind offensichtlich abgewandert. Wenn es noch zehn Jahre so weiter geht, so befürchtet Eljesa, könnten in der Altstadt auch noch die restlichen Läden verschwinden. 

Kosovo Brain Drain
Die Sprachenschule "Opportunity" in Gjakova in Kosovo bietet Deutschkurse für Auswanderer anBild: Vjosa Çerkini/DW

Eine Deutschschülerin an ihrer Schule ist Arlinda Ramaj aus Gjakova. Die Lebenssituation der 27-Jährigen ist typisch für viele ihres Alters in Kosovo, denn sie ist zwar ausgebildete Krankenschwester, aber Kosovo, das über kein geordnetes Gesundheitssystem verfügt, kann ihr nur wenige Arbeitsmöglichkeiten bieten. Jetzt lernt sie Deutsch, um demnächst in Deutschland als Krankenschwester zu arbeiten. "Überzeugt haben mich die besseren Lebensbedingungen, das bessere Gehalt und die Möglichkeiten, die sich einem bieten. Wenn ich hier einen gut bezahlten Job finden würde, würde ich hierbleiben", sagt Arlinda Ramaj.

Krankenschwester Arlinda Ramaj im Zentrum von Gjakova vor einem Café
Krankenschwester Arlinda Ramaj möchte nach Deutschland auswandern, um dort zu arbeitenBild: Vjosa Çerkini/DW

Ihr Bruder ist schon seit einem Jahr in Deutschland und arbeitet seitdem in einem Restaurant als Kellner, obwohl er in Kosovo eine Ausbildung als Buchhalter absolviert hat. Aber, so berichtet Arlinda, er ist glücklich mit dem Job und mit seinem Einkommen. Auch Arlindas Schwester, die sich derzeit auf das Abitur vorbereitet, will später einmal nach Deutschland gehen.

Auswanderung aus Kosovo prägt Gesellschaft und Wirtschaft 

Arlinda Ramaj steht stellvertretend für 30.000 Auswanderer aus Kosovo pro Jahr. Lirim Krasniqi, Mitbegründer von Germin, einer Nichtregierungsorganisation, die sich mit der albanischen Diaspora beschäftigt, kennt das Thema Auswanderung gut. "Ich könnte den ganzen Tag darüber sprechen", sagt er, "so umfangreich ist dieses Thema in Kosovo."

Laut dem kosovarischen Amt für Statistik (ASK) verließen noch vor zehn Jahren etwa 15.000 bis 20.000 Kosovaren pro Jahr das Land. In den vergangenen fünf Jahren ist diese Zahl weiter gestiegen. Inzwischen werden die Auswanderungen auf 30.000 Menschen pro Jahr beziffert. Nicht alle Emigranten bleiben jedoch dauerhaft im Ausland.

Ohne Zukunft – Junge Menschen im Kosovo

"Der wirtschaftliche Effekt ist enorm, weil die meisten Auswanderer jung sind, zwischen 24 und 35 Jahre alt. Die kosovarischen Unternehmen stellen zunehmend fest, dass ihnen Fachkräfte fehlen", sagt Krasniqi. "Die Löhne, die geboten werden, sind daher gestiegen. Langfristig verliert Kosovo aber den vitalsten Teil seiner Gesellschaft. Am stärksten wird der Gesundheitssektor betroffen sein, nicht zuletzt wegen der langen Ausbildungszeiten dort."

Die kosovarische Regierung hat keine Strategie, wie mit der Abwanderung umzugehen ist. Während Länder wie Deutschland Fachkräfte anwerben und den jungen Menschen aus Kosovo attraktiv erscheinen, gehen dem Land selbst die Arbeitskräfte aus. 

Kosovos Hochschulabsolventen studierten für die Arbeitslosigkeit, meint Krasniqi und erklärt: "Kosovo muss sein Bildungssystem reformieren, damit die Absolventen der Universitäten hier auch eine Chance bekommen." In Bezug auf den Fachkräftemangel in Deutschland schlägt er vor: "Deutschland sollte Kosovo einen Ausgleich bezahlen für die Ausbildung, die die Fachkräfte hier bekommen. Das könnte in Form von Investitionen erfolgen. Kosovo sollte das auch bei diplomatischen Gesprächen verlangen." 

Die Arbeitsplätze für Deutschlehrer in Kosovo sind sicher

Zurück zur Sprachenschule von Eljesa Beqiri. Hier unterrichtet auch die 33-jährige Lehrerin Vlora Ramadani. Sie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben in Kosovo. Jeden Tag, von Montag bis Samstag, erteilt sie Deutschunterricht, elf Stunden am Tag. 

All ihre Schüler sind zur Auswanderung entschlossen. Die Lehrerin hat das schon hinter sich. Nach elf Jahren in Deutschland ist sie froh, wieder zurück in ihrer Heimat zu sein. "Ich mag unsere Gemütlichkeit, ich brauche kein Auto, hier ist alles in der Nähe, ich kann alles zu Fuß erledigen. In Deutschland ist alles hektisch - immer nur arbeiten", sagt sie.

Porträt einer jungen Frau mit langen schwarzen Haaren
Vjosa Cerkini Themen: Kosovo, die anderen Westbalkan-Länder und deren Verbindungen zum Westen