Baerbock fordert neue NATO-Strategie in Osteuropa
22. April 2022Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mahnte nach Beratungen mit ihrem litauischen Kollegen Gabrielius Landsbergis in der litauischen Hauptstadt Vilnius, die bisherige "Stolperdrahtlogik" der Allianz reiche angesichts des russischen Vorgehens nicht mehr aus. Zur Verstärkung der NATO in Osteuropa sagte die Grünen-Politikerin einen "substanziellen Beitrag" Deutschlands zu. Statt bei einer Aggression etwa die baltischen Staaten zunächst preiszugeben und sie dann wieder zu befreien, müsse die NATO in der Lage sein, einen Angriff sofort und umfassend zurückzuschlagen.
Die Geschehnisse von Butscha und an anderen Orten in der Ukraine hätten die Ausgangslage komplett verändert, sagte Baerbock. Die NATO wisse jetzt, zu welchen Gräueltaten die russischen Truppen fähig seien. Die Vorstellung, dass die Balten überrollt würden, sei "nach Butscha nicht mehr akzeptabel, denn wir sehen tagtäglich, wenn Orte eingenommen werden durch die russische Armee, dann passiert unvorstellbare Grausamkeit." Daher müsse die NATO unmittelbar in der Lage sein zu reagieren. Dies erfordere auch eine entsprechende Aufstellung der Truppen an der Ostflanke, sagten Baerbock und Landsbergis.
Forderung nach Aufstockung der Streitkräfte
Beide Minister forderten entsprechend, die Streitkräfte zahlenmäßig aufzustocken. In Litauen sind bislang etwa 1500 NATO-Soldaten stationiert, darunter etwa 1000 der Bundeswehr, die dort auch die Führung übernommen hat. Weitere Verbände der Mission "Enhanced Forward Presence" sind in Estland, Lettland und Polen stationiert.
Landsbergis nannte als Verstärkung die Kapazität einer Brigade, was etwa 4000 Soldaten entspricht. Baerbock sagte, sollte dies die NATO auf dem Gipfel im Sommer in Madrid beschließen, werde Deutschland einen "substanziellen Beitrag" leisten. "Es braucht nicht nur Lippenbekenntnisse in Madrid."
Landsbergis sagte, zudem brauche es gepanzerte Fahrzeuge, Luftverteidigung, eine Verteidigung zur See und die Sicherung von Häfen und Infrastruktur. Sollten Schweden und Finnland der NATO beitreten, wäre dies dafür ebenso wichtig und würde die Lage verändern. "Zusammenfassend ist eine strategische Veränderung notwendig, damit wir nicht eine Position einnehmen, dass wir nichts im Baltikum machen."
Am Dienstag kommen die NATO-Verteidigungsminister auf Einladung der USA zu einem Treffen auf dem US-Stützpunkt in Ramstein in Deutschland zusammen. Dabei soll es um das weitere Vorgehen an der Ostflanke, aber auch bei der Bereitstellung von schweren Waffen für die Ukraine gehen.
"Keinen Waffenstillstand um jeden Preis"
Baerbock wies in diesem Zusammenhang Vorwürfe zurück, Deutschland tue zu wenig. Die Bundesregierung habe die Ukraine von Anfang an mit dem unterstützt, was lieferbar gewesen sei. Einen Bericht, wonach Bundeskanzler Olaf Scholz eine Wunschliste der Ukraine nach schweren Waffen zusammengestrichen habe, wies die Ministerin zurück. Die Existenz einer solchen Liste sei ihr nicht bekannt.
Mit Blick auf den Kriegsverlauf in der Ukraine dämpfte Baerbock die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Kampfhandlungen. "Einen "Diktat-Frieden" mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin werde man nicht akzeptieren. Die Ukraine müsse vielmehr in die Lage versetzt werden, weiter zu kämpfen.
"Hier wird europäische Sicherheit garantiert"
Nach dem Treffen mit dem litauischen Außenminister Landsbergis besuchte Baerbock den von Deutschland geführten NATO-Gefechtsverbandes in Rukla. Dabei hob die Außenministerin den Einsatz der Bundeswehr in einem multinationalen NATO-Gefechtsverband in Litauen als Beitrag für die europäische Sicherheit hervor. "Hier wird nicht nur die Sicherheit des Baltikums garantiert, sondern hier wird die europäische Sicherheit garantiert", sagte die Grünen-Politikerin zum Abschluss eines Besuchs bei den gut 1000 deutschen Soldatinnen und Soldaten in Rukla. Die europäische Zusammenarbeit in dem Verband brauche "mit Blick auf die Zukunft vor allen Dingen eine solide Ausstattung von Technik".
Der multinationale Verband in Rukla war vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine schon vor Kriegsbeginn durch zusätzliche Kräfte aus Deutschland, Norwegen und anderen Staaten von rund 1200 auf etwa 1600 Soldatinnen und Soldaten verstärkt worden. Derzeit stellt die Bundeswehr das größte Kontingent. Deutschland führt die "Enhanced Forward Presence Battle Group" (EFP), wie der Verband im NATO-Jargon heißt, seit 2017. An dem Bataillon beteiligen sich auch Soldaten aus Belgien, Frankreich, Island, den Niederlanden, Kroatien, Norwegen und Luxemburg.
hf/kle (rtr, dpa, afp)