Begnadigt Putin bald Tausende Ex-Häftlinge?
8. Februar 2023Erste Berichte über die Rekrutierung von Gefangenen in russischen Haftanstalten für den Krieg gegen die Ukraine kamen im Juli 2022 auf. Im September war dies praktisch allgemein bekannt. Die Rekrutierungen nehmen Mitarbeiter des Unternehmers Jewgenij Prigoschin vor, der die berüchtigte Söldnergruppe "Wagner" unterhält. Die private Sicherheitsfirma gilt als "Schattenarmee" von Präsident Wladimir Putin.
Als Gegenleistung für sechs Monate Dienst wird den Gefangenen eine Begnadigung versprochen. Vom russischen Parlament ist jedoch nie eine entsprechende Amnestie ausgerufen worden. Juristen zufolge sind daher präsidentielle Erlasse von Staatschef Putin die einzige Möglichkeit, nach der Gefangene für ihre Teilnahme am Krieg begnadigt werden könnten.
Die Zahl vorzeitiger Begnadigungen ist seit Putins Machtübernahme im Jahr 1999 stark zurückgegangen. In den letzten beiden Amtszeiten wurden nur wenige Personen pro Jahr auf diese Weise vorzeitig aus der Haft entlassen - 2021 vermeldete der Kreml nur sechs Personen. Nun müsste der russische Staatschef, wenn es nach Prigoschin geht, innerhalb weniger Monate gleich mehrere Tausend Gefangene begnadigen.
Wie viele Kämpfer wurden rekrutiert?
Der Kreml selbst gibt sich in dieser Frage bislang zugeknöpft. "Ich kann dazu nichts sagen", brummte Kremlsprecher Dmitrij Peskow Ende Januar Journalisten gegenüber. "Sie wissen, dass es offene Erlasse gibt und welche mit verschiedenen Geheimhaltungsstufen. Zu letztgenannten kann ich nichts preisgeben." Er fügte hinzu, dass alle Begnadigungen nach russischem Recht durchgeführt würden.
Die russische Webzeitung "Mediazona", die aus dem Exil im litauischen Vilnius und dem georgischen Tiflis heraus arbeitet, untersuchte Angaben der russischen Strafvollzugsbehörde und stellte fest, dass die Zahl der russischen Häftlinge von September auf Oktober 2022 offenbar aufgrund der Rekrutierung um 23.000 gesunken sei. Olga Romanowa, Gründerin der Menschenrechtsorganisation "Russland hinter Gittern" (Rus Sidjaschtschaja), nennt ähnliche Zahlen. Nach Schätzungen von US-Geheimdiensten nahmen im Dezember 2022 sogar 40.000 Gefangene als Kämpfer der Wagner-Truppe am Krieg in der Ukraine teil.
Seit Oktober 2022 ist die Zahl der Insassen in den Gefängnissen bisher aber nicht weiter zurückgegangen, stellt "Mediazona" fest. Von November bis Januar seien es 6000 weniger, was dem Trend der Vorjahre entspreche, so die Zeitung. Auch das britische Verteidigungsministerium kommt unter Berücksichtigung derselben Daten zum Schluss, dass das Ausmaß der Rekrutierung von Gefangenen inzwischen erheblich abgenommen hat.
Begnadigung noch vor dem Kampfeinsatz?
Im Internet kursieren viele Videos über freigelassene Gefangene, die von Prigoschins Pressedienst veröffentlicht wurden. Jedoch wurde dabei nur ein einziges Mal ein offizielles Dokument erfasst, und zwar in einem Video vom Oktober 2022. Darin werden vier Männer angeblich in einem Krankenhaus in Luhansk für ihren Mut ausgezeichnet; sie erhalten Urkunden über ihre Freilassung und ihre "vollständige Begnadigung". Auf einer dieser Urkunden ist zu lesen, dass die betreffende Person "per Begnadigungs-Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation" freigelassen wird. Eine Nummer des Erlasses enthält die Urkunde aber nicht. Dafür findet sich dort ein aufschlussreiches Datum: Demnach habe Präsident Putin den betreffenden Erlass bereits am 6. Juli 2022 unterzeichnet, also wahrscheinlich noch bevor die Gefangenen aus der Haftanstalt an die Front geschickt wurden.
Die DW hat die Liste der russischen Präsidialerlasse für 2022 untersucht. Sie sind der Reihe nach nummeriert, doch die Nummern geheimer Erlasse fehlen. So kann man deren Anzahl bestimmen. Zwischen dem 5. und 8. Juli, als Putin offenbar auch jenen Gefangenen in dem besagten Video begnadigte, wurden vier geheime Erlasse unterzeichnet. Theoretisch kann jeder von ihnen einen unbegrenzten Personenkreis umfassen.
Ein ehemaliger Wagner-Söldner berichtet
Ehemalige Kämpfer der Wagner-Truppe berichten unterdessen, wie Gefangene Begnadigungs-Urkunden erhalten. Der ehemalige Söldner und Kommandant einer Wagner-Einheit, Andrej Medwedew, floh im Januar nach Norwegen, wo er gegenüber den Behörden des Landes aussagte.
"Ich weiß, dass sie bei ihrer Ankunft am Sammelplatz Verträge unterschreiben und ein Antragsformular auf Begnadigung in Abwesenheit erhalten, noch bevor sie in den Kampf ziehen. Möglicherweise soll sie dies überzeugen und ihnen garantieren, dass sie nicht belogen werden, was ihre Begnadigung angeht", sagte Medwedew gegenüber der Zeitung "The Insider". Ein anderer entflohener Gefangener berichtete "Mediazona" anonym, noch in der Haftanstalt habe man den Gefangenen einen Antrag auf Begnadigung zur Unterschrift vorgelegt. Ihm zufolge werden die Anträge bearbeitet, bevor die Männer an die Front geschickt werden.
Kommen die Rekrutierten wirklich frei?
Zuverlässige Beweise dafür, dass die Gefangenen nach sechs Monaten Dienst in der Wagner-Truppe aus dem Krieg zurückkehren und ohne jegliche Verpflichtungen freigelassen werden, gibt es nicht. Fast alle Gefangenen, von denen Videos kursieren, sagen darin, dass sie nicht in ihr normales Leben zurückkehren, sondern wieder in die Wagner-Truppe und an die Front zurückkehren werden.
Die russische Rechtsanwältin Jana Gelmel, die sich für die Rechte von Gefangenen einsetzt, sagt, die rekrutierten Gefangenen seien nicht wirklich frei, auch wenn sie nach ihrem Kampfeinsatz in die Freiheit entlassen würden. Viele würden unter Druck gesetzt, die Wagner-Truppe nach Ablauf der Frist nicht zu verlassen. "Die Wagner-Truppe behält sie bei sich, denn sie alle sind irgendwie abhängig, von der Strafvollzugsbehörde und von Prigoschin." Gelmel zufolge wüssten viele der Häftlinge, die aus dem Krieg zurückkehren, dass sie auch wieder im Gefängnis landen könnten, sollten sie sich Forderungen der Wagner-Truppe verweigern.
Von Kriminellen gehen Gefahren aus
Menschenrechtsaktivisten warnen bereits vor einer gefährlichen Entwicklung, die das russische Justizsystem weiter untergräbt. Unter den Begnadigten seien auch verurteilte Schwerverbrecher - Mörder, bewaffnete Räuber und Mitglieder organisierter Verbrecherbanden. Viele von ihnen waren unrsprünglich zu langen Haftstrafen verurteilt worden, hätten aber nicht einmal die Hälfte davon verbüßt.
"Es gibt quasi weder Verbrechen noch Strafen mehr", warnt die Menschenrechtlerin Olga Romanowa von der Organisation "Russland hinter Gittern": "Jetzt ist alles erlaubt, und so etwas hat sehr weitreichende Folgen für ein Land."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk