"Es geht um fundamentale Grundrechte"
11. Februar 2020Deutsche Welle: Herr Dusel, Verbände und Betroffene protestieren gegen das vom Kabinett beschlossene Intensivpflege-Gesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn, es ist schon die dritte Fassung. Droht eine Verschlechterung ihrer Lebenssituation?
Jürgen Dusel: Ich kann die Sorgen von Verbänden und Einzelpersonen nachvollziehen. Auch mein Arbeitsstab und ich mussten sehr dafür werben, dass wir bestimmte Tatbestände im Gesetz rausbekommen und verändert haben. Zum jetzigen Zeitpunkt glaube ich, dass Verbände und Menschen mit Behinderungen keine Sorge haben müssen, dass es zu einer Verschlechterung kommt, wenn man den reinen Wortlaut des Gesetzes anschaut. Wie es tatsächlich in der Umsetzung wird, bleibt allerdings abzuwarten. Es gibt aus meiner Sicht Punkte, an denen man im parlamentarischen Verfahren feilen muss, aber die wesentlichen Dinge, die uns alarmiert haben im Sommer letzten Jahres sind deutlich verbessert worden.
Aber im Gesetzentwurf ist die Rede davon, dass Krankenkassen jährlich neu entscheiden, ob die Versorgung von Intensivpflegebedürftigen zuhause erfolgt und zwar nur, wenn die "medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann"?
Sie sprechen den Punkt an, den auch ich kritisch sehe: Und zwar nicht, dass eine jährliche Prüfung stattfindet, weil ich der Meinung bin, dass man klären muss, ob die medizinische Versorgungssituation in Ordnung ist, gerade für Menschen, die intensivpflegebedürftig sind. Aber ich stoße mich an den Worten "tatsächlich" und "dauerhaft" im Zusammenhang mit der Sicherstellung der medizinischen und pflegerischen Versorgung am gewünschten Leistungsort. Das sind zwei Worte, die ich streichen möchte, weil nicht klar ist, was damit gemeint ist und sie aufs Neue Unsicherheiten bei Patientinnen und Patienten auslösen. Zum Gesetzentwurf haben wir eine Stellungnahme abgegeben. Jetzt bleibt abzuwarten, ob wir uns durchsetzen oder ob man im parlamentarischen Verfahren dafür wirbt.
Stichwort Versorgungsqualität: Die ambulanten Pflegedienste werden schon geprüft, welches Pflegepersonal mit welcher Ausbildung sie einsetzen. In dem Moment, wo Angehörige zeitweise einspringen, prüft das niemand?
In der Tat. Aber ich teile die Intention des Gesetzes, dass die Qualität der Pflege, was Versorgung und medizinische Situation betrifft, gut sein muss. Da kann keiner etwas dagegen haben, weil Menschen, die beispielsweise beatmet werden, in einer besonders schwierigen Situation sind, weil Infektionen drohen. Was ich nicht nachvollziehen konnte - aber da sind wir Gottseidank jetzt in einer anderen Situation - dass die Krankenkassen über den Medizinischen Dienst die Teilhabe-Situation von Menschen mit Behinderungen hätten prüfen und entscheiden wollen. Da bin ich überzeugt, das kann nur der Mensch mit Behinderung selbst tun.
Stört es Sie nicht, dass auch künftig die Entscheidung bei den Krankenkassen liegt, von denen viele Betroffene berichten, dass sie versuchten, die Ausgaben zu drücken?
Das wird ja der Medizinische Dienst prüfen und der Medizinische Dienst hat seit seiner Reform in diesem Jahr mehr Neutralität, als das bislang der Fall war.
Alle Menschen in Deutschland haben das Recht auf häusliche Pflege. Für Menschen mit Behinderung und Schwerkranke soll ein Spezialrecht für Intensivpflege gelten. Sind sie damit schlechter gestellt?
Diese Personen haben natürlich das gleiche Recht auf häusliche Pflege. Aber wenn Menschen beatmet und pflegebedürftig sind, ist das eine andere Situation. Besonders schutzwürdig sind gerade Menschen, die beatmet werden. Deswegen finde ich das nachvollziehbar. Sie haben gleichwohl ein uneingeschränktes Recht auf häusliche Pflege, solange die medizinische und pflegerische Versorgung sichergestellt ist. Damit kann ich als Beauftragter der Bundesregierung leben.
Patienten mit Intensivpflegebedarf sind besorgt, denn sie haben keinen Einfluss auf eine dauerhafte Versorgung. Wenn sie ins Heim müssten, würden Menschen mit Behinderung aus der Öffentlichkeit verschwinden. Teilen Sie die Sorge?
Wir reden über einen Personenkreis und eine Situation, die hochsensibel sind. Ich kann natürlich die Sorgen der Menschen nachvollziehen. Deswegen haben wir uns auch in den letzten Monaten intensiv mit diesem Gesetz beschäftigt, haben sehr viel Energie investiert - zusammen mit Verbänden und Organisationen -, um bestimmte Tatbestände aus diesem Gesetzesentwurf herauszuholen. Es gibt ja noch die Möglichkeit, im parlamentarischen Verfahren Dinge zu verändern.
Bei früheren Gesetzentwürfen sahen Sie einen Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, diese Bedenken haben Sie nicht mehr?
Der letzte Gesetzesentwurf vom Dezember und auch der frühere verstießen nach meinem Dafürhalten klar gegen die UN-Behindertenrechtskonvention beispielsweise, was die selbstständige Lebensführung betrifft. Das sehe ich nach dem neuen Wortlaut nicht mehr, aber ich teile die Sorge der Verbände, dass man nach Inkrafttreten sehen muss, wie dieses Gesetz angewandt wird. Da will ich einen Blick drauf haben, ob wir noch etwas verändern müssen.
Das Gesundheitsministerium hat bei den Gesetzentwürfen mit hohen Kosten für Beatmung und Intensivpflege argumentiert, mit "Effizienz", mit dem Pflegekräftemangel. Darf das den Ausschlag dafür geben, wie man Schwerkranke und Behinderte rechtlich stellt?
Natürlich nicht. Menschen mit Behinderungen, Menschen, die pflegebedürftig sind, haben Grundrechte. Sie sind Bürgerinnen und Bürger wie jeder andere und sie haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen. Es ist Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass diese Rechte bei den Menschen ankommen. Der Mensch kann nie Gegenstand einer Kosten-Betrachtung sein, sondern es geht um fundamentale Grundrechte. Deswegen haben wir uns in dem Verfahren so engagiert.
Wie bedenklich ist es, dass die stationäre Versorgung bessergestellt werden soll als die häusliche Versorgung, die sich viele der Betroffenen wünschen?
Das finde ich bedenklich, weil ich schon der Meinung bin, dass ein Mensch die freie Wahl haben muss, wo und mit wem er wohnt. Und in der Tat gibt dieses Gesetz finanzielle Anreize für die stationäre Versorgung. Aber wir haben im Artikel 37c jetzt die Situation, dass der Mensch selbst entscheidet, wo und wie er lebt, solange die pflegerische Qualität und die medizinische Versorgung gewährleistet ist. Das ist im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Die Pflegequalität in Heimen macht vielen Sorgen.
In der Tat. Ich war lange Zeit zuständig für die Heimaufsicht. Deswegen bin ich der Meinung, dass durchaus Zweifel daran bestehen können, ob die entsprechende Qualität von medizinischer Versorgung und Pflege in den Heimen in allen Fällen gewährleistet werden kann. Ich finde, man muss die Qualität prüfen sowohl in den Heimen als auch in der Häuslichkeit, wenn es sich um Menschen handelt, die sehr pflegebedürftig sind.
Sind Sie zufrieden mit dem dritten Gesetzentwurf, weil die ersten beiden die Rechte der Betroffenen so deutlich verletzt haben?
Die ersten zwei waren in der Tat für mich als Behindertenbeauftragter inakzeptabel - deswegen haben wir ja massiv interveniert. Ich hätte mir gewünscht, dass vor dem dritten Aufschlag die Verbände nicht nur eine Informationsveranstaltung bekommen hätten, sondern eine komplette Anhörung zum gesamten Gesetz. Es ist mir wichtig, dass Menschen mit Behinderungen als Expertinnen und Experten in eigener Sache tatsächlich angehört werden und zwar auf gleicher Augenhöhe und mit entsprechenden Fristen, so dass sie die Gesetzestexte für sich prüfen und dann eine entsprechende Stellungnahme abgeben können. Das ist meine Kritik. Das hätte besser laufen müssen.
Jürgen Dusel ist Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Alle Ministerien sind verpflichtet, ihn frühzeitig zu beteiligen bei Gesetzen, die Menschen mit Behinderungen betreffen könnten, das sind in Deutschland rund 14 Millionen Personen. Ein Vetorecht hat er nicht. Jürgen Dusel ist von Geburt an stark sehbehindert.
Das Interview führte Andrea Grunau.