Beim 18. Elfer reißt die Serie
3. Juli 2016Jonas Hector wollte die ganze Welt umarmen: "Es ist schwer, das in Worte zu fassen, aber ich bin überglücklich, dass ich getroffen habe", strahlte der Kölner Außenverteidiger nach der Partie in die Kamera. Ausgerechnet Hector. Der Mann, der eigentlich nur fürs Tore Verhindern da sein sollte. Der Notnagel hinten links. Der vor sechs Jahren noch in der sechsten Liga gekickt hatte. Der als einziger im DFB-Kader nicht die klassische Karriere durch die Jugend-Auswahlmannschaften gemacht hat.
Klar, es war Glück dabei. Sein Elfmeter war nicht platziert geschossen, auch nicht besonders scharf. Und doch flutschte er unter dem Bauch von Italiens Torwart Gianluigi Buffon durch zum 6:5 (1:1, 1:1, 0:0) gegen Italien. Der Bann war gebrochen. Erstmals in der Fußball-Geschichte gelingt Deutschland ein Erfolg gegen den Angstgegner und steht am kommenden Donnerstag (21 Uhr MESZ im DW-Liveticker) im Halbfinale der Europameisterschaft in Frankreich.
Von Taktik geprägt
Das Spiel vor 39.000 Zuschauern in Bordeaux war nicht immer schön anzusehen. Bundestrainer Joachim Löw hatte tatsächlich auf eine Dreierkette in der Abwehr gesetzt, opferte Offensivkraft Julian Draxler für den dritten Innenverteidiger Benedikt Höwedes. "Es war klar, wir mussten das Zentrum zumachen", erklärte Löw nach der Partie im ARD-Fernsehen. "So haben wir kaum Chancen zugelassen." Aber sie hatten selbst auch wenige Tormöglichkeiten. Eine der ersten verwertete Mesut Özil in der 55. Minute zum 1:0. Mario Gomez hatte den Ball auf Hector zurückgelegt, dessen abgefälschtes Zuspiel bugsierte der Mittelfeldmann aus kurzer Distanz ins Tor. Italien war angeschlagen, "Die Mannschaft" drängte weiter. Doch statt auf 2:0 zu erhöhen, musste sie den Ausgleich hinnehmen.
Abwehrchef Jerome Boateng riss bei einem Kopfballduell im Strafraum die Arme hoch, der Ball prallte dagegen, Schiedsrichter Viktor Kassai aus Ungarn zögerte keinen Moment und pfiff Strafstoß. "Der Elfmeter ist blöd", schilderte Boateng die Situation. "Ich wollte im Zweikampf die Hände weglassen, damit nicht Foul gepfiffen wird, und dann kriege ich sie nicht rechtzeitig wieder runter." Leonardo Bonucci ließ sich die Chance nicht entgehen und verwandelte sicher zum 1:1 (78.).
Es schien zu laufen wie immer gegen Italien, wenn es um Titel geht. Aber das DFB-Team glaubte an sich, wollte nicht wieder als Verlierer gegen die Azzurri vom Platz gehen. Und das, obwohl Sami Khedira schon nach einer Viertelstunde mit einer Adduktorenverletzung ausgewechselt werden musste; Bastian Schweinsteiger kam für ihn. Und obwohl Mario Gomez Mitte der zweiten Halbzeit ebenfalls nicht mehr laufen konnte. Er wurde durch Draxler ersetzt. Ein Treffer gelang zwar nicht, aber auch die Italiener, die weiter ihr Defensivkonzept durchzogen, kamen kaum gefährlich vor das Tor von Manuel Neuer. Weder in der regulären Spielzeit noch in der Verlängerung.
Nervenflattern bei den etatmäßigen Schützen
So musste das Elfmeterschießen die Entscheidung bringen. Und da versagten ausgerechnet bei den vermeintlich sichersten Schützen die Nerven. Thomas Müller scheiterte mit einem Schüsschen an Buffon, Mesut Özil traf den Außenpfosten, und Schweinsteiger, der die Entscheidung auf dem Fuß hatte, drosch den Ball über die Latte. Zum Glück hatten die Italiener noch weniger Fortune. Neuer fand die Geschichte einfach nur merkwürdig: "So ein Elfmeterschießen habe ich noch nie erlebt. Es hat sehr lange gedauert. Den Bonucci wollte ich nicht zweimal treffen lassen, und da habe ich zum Glück den Ball gehalten."
Und so war es der 18. Elfmeter, getreten von Jonas Hector, der Deutschland ins Halbfinale brachte. "Es waren nicht mehr viele Leute, da habe ich das Herz in die Hand genommen", erzählte der. "Irgendeiner muss ihn rein machen. Natürlich ist ein kleines bisschen Glück dabei." "Der Jonas ist ein ganz ruhiger, konzentrierter Spieler", lobte Löw seinen Matchwinner nach der Partie, "da hatte ich ein gutes Gefühl." Seine Spieler hätten im Training immer wieder das Elfmeterschießen geübt, "aber im Spiel ist das etwas anderes. Da spielen die Nerven eine Rolle", so der Bundestrainer weiter.
Zittern um Khedira und Gomez
Ein paar Wermutstropfen gab es doch für das deutsche Team: Gomez und Khedira verletzt, und Mats Hummels sah, wohl zu Unrecht, die zweite Gelbe Karte im Turnier und ist jetzt fürs Halbfinale gesperrt. "Zwei unberechtigte Karten - ich weiß gar nicht, ob ich ihn berühre. Es hat sich nicht so angefühlt", klagte der Abwehrmann, der doch schon gegen die Slowakei fälschlicherweise eine Verwarnung kassiert hatte, verlor aber deshalb nicht seine Zuversicht: "Jetzt müssen wir schauen, dass wir es so regeln. Jetzt kann sich mein geschundener Körper wenigstens zwei, drei Tage mehr ausruhen bis zum Finale. Ich will definitiv nicht schon nach dem Halbfinale in den Urlaub fahren."
Hier können Sie die Partie in ihrer Chronologie nachlesen.